Kapitel 19
Als Morten am nächsten Morgen langsam erwachte, brauchte er einige Momente um zu verstehen, wo er sich befand. Er lag in einem weichen, warmen Bett, ganz anders als sein hartes und zugiges Lager an Bord der ‚Agnes'. Doch erst das Gefühl eines anderen Körpers dicht neben sich brachte die Erinnerungen an den vergangenen Abend zurück.
Langsam und vorsichtig drehte er sich auf die Seite, so dass er Johanns ruhig atmender, noch immer schlafender Gestalt zugewandt lag, darum bemüht, diesen nicht aufzuwecken.
Durch die Ritzen des Alkovens drang nur wenig Licht in das Innere, so dass er Johanns Gesichtszüge nicht in allen Einzelheiten ausmachen konnte. Trotzdem stützte er den Kopf auf seinen Arm, hörte auf die ruhigen Atemzüge, erahnte das regelmäßige Heben und Senken des Brustkorbes und spürte der Wärme nach, die von Johanns Körper ausging.
Es war ein seltsamer Moment der Ruhe und Stille, unwirklich, als sei die Welt, die draußen mit einem neuen Tag auf sie wartete, noch weit weg und würde sich gedulden bis sie soweit waren, sich ihr wieder zu stellen.
Eine ganze Weile lag Morten einfach nur da und betrachtete die schlafende Gestalt neben sich und mit jedem Moment, in dem das Licht, das in den Alkoven drang, heller wurde, konnte er Johann besser erkennen, konnte er seine feinen Gesichtszüge ausmachen, die im Schlaf noch jünger, beinahe verletzlich wirkten und nur schwer mit dem Kaufmann in Einklang gebracht werden konnten, der am gestrigen Tag harte Verhandlungen über Stockfisch, Getreide und Bier geführt hatte.
Morten hatte in den letzten Tagen erkennen müssen, dass der Kaufmannsberuf ebenso zu Johann dazugehörte, wie seine Abenteurerseele, die tief in ihm schlummerte. Eine Erkenntnis, die Morten bisher in dieser Deutlichkeit nicht klar gewesen war. Bisher hatte er immer geglaubt, dass Johann sein Leben in Lübeck, seinen Beruf als Kaufmann als Bürde betrachtete, der er meinte nicht entkommen zu können. In den letzten Tagen hatte Morten allerdings gesehen, dass er sich geirrt hatte. Es stimmte, Johann war im Grunde seines Herzens ein Abenteurer. Aber Johann hatte auch Freude am Beruf des Kaufmanns und offensichtlich auch Talent dafür. Seine Unzufriedenheit rührte daher, dass er glaubte, beide Leidenschaften schlössen einander aus. Er glaubte, er könne nur Kaufmann oder Abenteurer, nicht beides zusammen sein. Und da der Beruf des Kaufmanns ihm in die Wiege gelegt war, war es der Abenteurer in ihm, der litt und glaubte, nur auf dieser einen Reise nach Bergen ein einziges Mal zu seinem Recht kommen zu können. Und genau da war der Punkt, an dem Morten sich nicht sicher war, ob Johanns Schlussfolgerung die einzig richtige sein musste.
Was sollte Johann daran hindern, auch in Zukunft immer wieder selbst auf Handelsreise zu gehen, seine Schiffsladungen nach Bergen, London, Novgorod oder Visby zu begleiten, um die Verhandlungen vor Ort selbst zu führen. Auf diese Weise könnte Johann den Kaufmann mit dem Abenteurer verbinden. Und auf diese Weise wäre noch ein weiteres Problem gelöst. Denn was sollte ihn, Morten daran hindern, auf zufällig genau diesen Schiffen dann anzuheuern?
Morten war kein Idiot. Er wusste sehr genau, dass Johann und er aus zwei vollkommen verschiedenen Welten kamen, dass die Freundschaft, die sie miteinander verband, äußert ungewöhnlich und deshalb im Grunde zum Scheitern verurteilt war. Wenn alles blieb, wie von Johann beabsichtigt, würde diese Freundschaft, da gab sich Morten keiner Illusion hin, früher oder später enden. Morten würde auf dem nächsten Schiff anheuern, Johann würde in sein Elternhaus zurückkehren und in die Fußstapfen seines Vaters treten. Und selbst wenn sie sich gelegentlich in Lübeck am Hafen über den Weg laufen würden, würden ihre unterschiedlichen Stände ein freundschaftliches Miteinander nicht erlauben. Sie würden sich fremd werden und irgendwann vielleicht nicht einmal mehr ein Nicken füreinander übrig haben.
Es war der natürliche Lauf der Dinge, eigentlich unabwendbar und Morten wusste das genau. Es bedeutete aber nicht, dass er dies einfach so akzeptieren konnte oder wollte. Er war fest entschlossen jede Möglichkeit nutzen um das, was vorherbestimmt war, möglicherweise doch zu ändern, jede Möglichkeit, die dafür sorgte, dass Johann nicht einfach wieder aus seinem Leben verschwand. Denn das war ein Gedanke, den er ganz und gar unerträglich fand.
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Bryggen
Historische RomaneLübeck zur Hansezeit im Jahr 1391 - Kaufmannssohn Johann verlässt sein wohlbehütetes Elternhaus und macht sich auf die gefährliche Fahrt nach Tyskebryggen in Bergen. Es verspricht, das Abenteuer seines Lebens zu werden. Doch dann begegnet er Morten...