Teil I - Kapitel 5

113 16 0
                                    

Kapitel 5

Es dauerte schließlich mehrere Tage, bis Johann sich wieder so gut fühlte, dass er aufstehen, laufen und auch wieder essen konnte.

Der Zufall war ihm zu Hilfe gekommen, genauer gesagt das Wetter. Nachdem die ‚Agnes' in den ersten Tagen ihrer Reise gute Fahrt gemacht hatte, hatte sich der Wind inzwischen vollständig gelegt. Seit der Nacht lag die ‚Agnes' bewegungslos im weiten, offenen Meer. Am Rande hatte Johann die Gespräche zwischen Morten, dem Schiffer und dem anderen Steuermann mit Namen Lutz mitbekommen, die darüber gesprochen hatten, dass sie die Küstennähe verlassen und die Route in Richtung Norden zum Öresund eingeschlagen hätten, die einzige Strecke ihrer Reise, die sie nicht in Küstennähe zurücklegen konnten. Zunächst hatte Johann das Gefühl gehabt, das Schiff wurde sich mit Erreichen des offenen Meeres nur noch stärker heben und senken. Doch mit der Flaute hatte das Schaukeln des Schiffes erheblich nachgelassen und dazu geführt, dass es Johann seitdem mit jeder Stunde besser gegangen war.

Inzwischen saß er, eine Decke über den Schultern, auf Deck und löffelte vorsichtig eine heiße Brühe, die der Schiffskoch Fedder ihm gekocht hatte. Er war tatsächlich hungrig, sah es als gutes Zeichen und nahm deshalb gerne noch einen zweiten Schöpfer, als ihm dies von Fedder angeboten wurde.

Johann sah Fedder mit aufrichtiger Dankbarkeit ins grobschlächtige Gesicht.

„Danke für die Suppe. Sie ist sehr gut."

Und nach kurzem Zögern fügte er hinzu:

„Und danke dafür, dass du versucht hast mir zu helfen, als es mir in den letzten Tagen so schlecht ging."

Fedder grinste ihn an.

„Nun, geholfen hat es ja herzlich wenig."

„Ich weiß die gute Absicht zu schätzen."

„Schon gut, Jungchen. Jeder von uns weiß, wie es sich anfühlt seekrank zu sein. Sieh es so – wenn du Glück hast, bist du nun ein für allemal geheilt."

Mit diesen Worten schöpfte Fedder ihm noch einmal kräftig von der Suppe nach, dann schlug er ihm wohlwollend so kräftig auf die Schulter, dass Johann den Inhalt seiner Holzschüssel beinahe wieder verschüttet hätte und verschwand dann wieder in seiner Kombüse, sicherlich um die nächste Mahlzeit für die Mannschaft vorzubereiten. Johann blieb sitzen, wo er war, noch immer die Decke um die Schultern und die wohltuende Suppenschüssel in der Hand.

Er wusste, dass er einen erbärmlichen Anblick bieten musste. Sein kostbarer Tappert war ihm irgendwo abhanden gekommen. Sein Untergewand war vorne zerrissen, klaffte weit auseinander und entblößte fast seine gesamte Brust. Die Haare waren ungewaschen und hingen ihm wirr um den Kopf. Er hatte auch keinen Zweifel daran, dass er nach wie vor blass war und dunkle Ringe seine Augen zierten. Trotzdem war er froh, die letzten Tage hinter sich zu haben und er hoffte, dass Fedder recht behalten und ihn die Seekrankheit nicht noch einmal heimsuchen würde. Er wollte sich nie wieder so elend fühlen wie in den letzten Tagen.

Fedders Worte, dass jeder auf diesem Schiff wisse, wie es sich anfühle seekrank zu sein, hatten eine Erinnerung in Johann geweckt, von der er nicht wusste, ob er sie wirklich erlebt oder lediglich geträumt hatte. Er meinte, sich erinnern zu können, Worte wie diese bereits schon einmal gehört zu haben, als er – der Welt entrückt – auf dem Deck des Heckkastell in sich zusammengerollt gelitten hatte. Er glaubte, sich an eine Stimme erinnern zu können, die ihm tröstende Worte zugeflüstert hatte und ihn aus diesem seltsamen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, Sein und Siechen herausgeholt hatte. Er hatte sogar einige verwirrende Momente lang gedacht, diese Stimme habe zu Morten gehört, aber nun, da er wieder wach und bei Verstand war, konnte er darüber nur den Kopf schütteln. Er wusste nicht, wer zu ihm gesprochen hatte oder ob er sich die tröstenden Worte vielleicht am Ende nur eingebildet hatte, aber er wusste ganz gewiss, dass sie nicht von Morten stammen konnten.

Seit er wieder auf den Beinen war, hatte Morten ihn kein einziges Mal beachtet. Er hatte ihn nicht angesprochen und noch nicht einmal angesehen, selbst dann nicht, als Johann sich an diesem Morgen das erste Mal seit Tagen vom Boden des Heckkastells aufgerappelt hatte und schwachen Schrittes zur Leiter geschwankt war. Johann war sich sehr wohl bewusst, dass er Morten die letzten Tage über den besten Anblick geboten haben musste – schwach, krank und verletzlich – und Mortens Spott würde wahrscheinlich nicht mehr lange auf sich warten lassen.

In diesem Moment hörte Johann tatsächlich Mortens Stimme und unwillkürlich sah er sich suchend um.

Er fand den Steuermann, der aufgrund der Flaute seinen Platz am Ruder des Schiffes für den Moment aufgegeben hatte, nicht weit von sich an Deck des Schiffes neben dem Schiffsjungen knien, eine Hand beschützend, beinahe aufmunternd auf den schmalen Schultern des Jungen liegend.

Harro – so viel wusste Johann inzwischen – mochte vielleicht acht oder neun Jahre alt sein. Er war dürr wie eine Krähe, mit ebenso schwarzem Haar, das ihm wirr nach allen Seiten vom Kopf ab stand. Seine Kleidung war mehrfach geflickt und abgerissen, die Beinlinge braun und verbeult, das Hemd beigefarben und nicht viel mehr als ein Untergewand. Er hatte keine Schuhe, sondern lief barfuß. Seine dunklen Augen wirkten immer ein wenig gehetzt und huschten von links nach rechts, als befürchte er jeden Moment einen Angriff.

Johann konnte sehen, dass Harro geweint hatte. Helle, feuchte Spuren zogen sich noch über die schmutzigen Wangen und sein Brustkorb hob sich ruckartig wie bei einem Schluckauf.

Johann sah zu seiner Verwunderung, wie Morten auf den Jungen einsprach, offenbar ruhig und sanft, auch wenn er kein Wort von dem verstehen konnte, was Morten zu Harro sagte. Noch mehr verwunderte ihn aber der Ausdruck, den Harros Gesicht annahm, je länger Morten auf ihn einredete. Er konnte dabei zusehen, wie die Tränen versiegten, wie Harro immer ruhiger wurde und wie sich ein Ausdruck tiefer Dankbarkeit und Bewunderung auf dem Gesicht des Kindes abzeichnete. Johann konnte beobachten, wie sich Mortens Griff um die Schulter des Jungen verstärkte, wie sich Harro mit dem Handrücken mehrmals über die Augen fuhr, um auch die letzten Tränen abzuwischen. Noch einmal redete Morten auf Harro ein und die Augen des Jungen, die eben noch gehetzt und traurig, beinahe verzweifelt gewirkt hatten, fingen an zu strahlen. Johann glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können, als sich zwei dürre Ärmchen um Mortens Hals schlangen und sich der kleine Junge dankbar und erleichtert an den größeren drückte. Doch noch viel unglaublicher erschien es ihm, dass Morten lachte – warm und herzlich – und dem Jungen mit seiner linken Hand einige Mal beruhigend und aufmunternd über den Rücken strich, bis er ihn sanft an beiden Schultern packte, ein Stück von sich wegzog und ihm zuzwinkerte.

Dann stand Morten auf. Sein Gesicht verlor die Herzlichkeit und nahm einen entschlossenen Ausdruck an, als er Harro los ließ und sich einer Gruppe von fünf oder sechs Seeleuten zuwandte, die an Deck zusammen saßen und lauthals ein Würfelspiel spielten, um sich die Zeit zu vertreiben. Auf diese Gruppe ging Morten mit großen Schritten zu.

„He, Bertin!"

Der Angesprochene sah von den Würfeln auf und Morten entgegen. Er hatte das Kreuz eines Bullen und Oberarme, die dicker waren als Johanns Schenkel. Die Augen wirkten klein in dem grimmigen Gesicht und auf dem Kopf hatte er keine Haare mehr. Johann hatte unbewusst seit Beginn der Reise einen möglichst großen Bogen um diesen Bertin gemacht. Er wirkte wie einer jener Männer, mit denen man sich am besten nicht anlegen sollte. Umso erstaunter war Johann, dass Morten offenbar genau dies beabsichtigte.

Auch Bertin, der dies wohl erkannt hatte, wirkte überrascht. Mit drohendem Unterton in der Stimme knurrte er Morten an.

„Was willst du, Morten?"

Morten ließ sich davon nicht sichtbar einschüchtern. Er baute sich breitbeinig vor Bertin auf, die Hände in die Hüften gestemmt.

„Du solltest es dir in Zukunft gut überlegen, unseren Schiffsjungen zu schikanieren und ihm Angst einzujagen. Denn ab sofort steht er unter meinem persönlichen Schutz, damit du es nur weißt."

Bertin erhob sich zu seiner ganzen, beeindruckenden Größe und stellte sich Morten entgegen. Johann konnte mit widerwilliger Bewunderung beobachten, dass Morten keinen Schritt zurück wich, auch wenn Bertin, wenn nicht größer, aber fast doppelt so breit wie Morten wirkte. Stattdessen grinste Morten Bertin sogar frech an.

„Bei deiner Größe solltest du eigentlich in der Lage sein, einen wilden Stier zu Tode zu erschrecken. Stattdessen vergreifst du dich an kleinen Kindern. Ich gebe dir den guten Rat, dir das nächste Mal jemanden in deiner Größe zu suchen, hörst du? Sonst bekommst du es mit mir zu tun."

Bertin lachte laut und dröhnend, allerdings auch mit einem Unterton, der Johann das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Was willst du halbes Hemd denn gegen mich ausrichten?"

Doch Morten sah Bertin nur weiter grinsend an.

„Unterschätze mich nicht, Bertin. Vielleicht bin ich kein Ochse, so wie du. Aber ich habe mehr Grips als du."

Johann sah, wie die Schlagader an Bertins Hals sichtbar anfing zu pulsieren und wie ihm die Röte vom Hals ab ins Gesicht kroch. Es brauchte nicht viel, um Bertin herauszufordern und Johann war sich sicher, dass Morten sich dessen ebenfalls von Anfang an bewusst gewesen war. Innerlich konnte er über Morten nur den Kopf schütteln. Trotzdem konnte er den Blick nicht abwenden, ebenso wenig wie die übrigen Seemänner, die ihre Tätigkeiten eingestellt hatten und dem Schauspiel, das sich ihnen bot, zusahen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Johann Harro, der Morten aus einiger Entfernung mit großen, angstvollen aber auch bewundernden Augen beobachtete.

Johann sah, wie Bertin seine rechte Hand zur Faust ballte. Auch Morten musste es bemerkt haben, er machte aber keine Anstalten, sich von Bertin zurückzuziehen.

„Du kleiner, mieser..."

„Es reicht!"

Johann war von der Auseinandersetzung zwischen Morten und Bertin so eingenommen gewesen, dass er Schiffer Petters nicht bemerkt hatte, der aus seiner Kajüte gekommen war und nun mit langen Schritten auf die beiden Streithähne zuschritt.

„Ich dulde keine Schlägereien auf meinem Schiff. "

Petters deutete auf Bertin.

„Du – hilfst Fedder in der Kombüse."

Dann deutete er auf Morten.

„Du – schrubbst mit Harro zusammen das Deck."

Dann sah er in die Runde.

„Der Rest – überprüft die Ladung, begutachtet die Segel und repariert die Fischernetze. Nur weil Flaute herrscht, bedeutet das nicht, dass es nichts zu tun gibt."

Die Männer murrten aber fügten sich, auch Morten und Bertin, nicht aber ohne sich noch ein paar abschätzige und in Bertins Fall wütende Blicke zuzuwerfen. Doch erst, als Bertin in der Kombüse verschwunden war und Morten sich zu Harro gesellt hatte, atmete Johann auf. Er bewunderte die Autorität des Schiffers, gleichzeitig beruhigte sie ihn auch. Wenn ein paar Worte des Schiffers ausreichten, um zwei Kampfhähne wie Morten und Bertin auseinanderzuhalten, musste ihm wahrscheinlich tatsächlich nicht bange sein. Sein Vater hatte recht gehabt – der Schiffer war erfahren und hatte Schiff und Mannschaft im Griff.

Sein Blick wanderte zurück zu Morten, der gerade mit Harro an der Reling des Schiffes stand und einen Holzeimer an einem Seil ins Meer hinabließ, nur um ihn mit Meerwasser gefüllt gleich wieder an Bord zu ziehen. Morten vermittelte dabei nicht den Eindruck als würde es ihn stören, zu den Arbeiten eines Schiffsjungen verdonnert worden zu sein. Im Gegenteil grinste er Harro an, der zurück lächelte und sich dicht neben Morten hielt.

Johann wusste nicht, was er von dem eben Gesehenen halten sollte.

Er hatte Morten bisher für einen ungebildeten, aufsässigen Unruhestifter gehalten, der nur seinen eigenen Vorteil im Blick hatte. Doch in den letzten Minuten hatte er eine ganz andere Seite an Morten entdeckt, von der er niemals vermutet hätte, dass es sie gab. Er wusste nicht, warum Morten sich ausgerechnet des Schiffsjungen angenommen hatte aber offensichtlich wohnte ein gewisses Maß an Freundlichkeit und Gerechtigkeitssinn auch in Morten.

Einen kurzen Moment lang regte sich so etwas wie Wohlwollen in Johann, das ihn fast noch mehr überraschte als Mortens freundliche Charakterzüge und er fragte sich schon, ob er sich möglicherweise doch nicht getäuscht hatte, als er während seines Dämmerzustandes gemeint hatte, Morten habe ihm aufmunternde Worte zugeflüstert.

Doch im selben Moment hob Morten den Blick in seine Richtung und sah ihm in die Augen.

„He Goldjunge – was glotzt du so?"

Und mit einem Schlag war jedes Wohlwollen wieder verflogen. Offensichtlich beschränkte sich Mortens Freundlichkeit auf kleine, dürre Schiffsjungen. Grollend widmete Johann sich wieder seiner Suppe, die inzwischen kalt geworden war.

~ o ~
Das Deck zu schrubben war Morten in den vielen Jahren, die er als Schiffsjunge auf irgendwelchen Schiffen gearbeitet hatte, in Fleisch und Blut übergangen und er hatte nichts verlernt, auch wenn es nun schon einige Jahre her war, dass er das Deck eines Schiffes zum letzten Mal gewischt hatte.

Trotzdem machte es ihm nichts aus. Zusammen mit Harro ging die Arbeit doppelt so schnell von der Hand. Hinzu kam, dass es sowieso nichts anderes zu tun gab, solange der Wind eine Pause einlegte. Außerdem würde er immer wieder das Deck schrubben, solange er Bertin dafür in seine Schranken weisen und Harro beschützen konnte.

Der kleine Schiffsjunge erinnerte ihn an sich selbst in diesem Alter. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er die ausgewachsenen Seeleute bewundert hatte, wie sie ihn aber teilweise verängstigt hatten. Er war ebenso wie Harro lange Zeit der Jüngste an Bord gewesen und zuständig für jede niedrige Arbeit. Viele der Seemänner, mit denen er zur See gefahren war, waren anständig gewesen, einige sogar freundlich. Doch gelegentlich hatte es immer wieder jemanden wie Bertin gegeben, der unzufrieden mit sich und seiner eigenen Position die Möglichkeit genutzt hatte, an ihm seine Macht und überlegene Stärke zu demonstrieren. Ihn hatte damals niemand beschützt und er hatte lernen müssen sich zu wehren. Es hatte ihn geprägt und er hatte seine eigene Stärke daraus gezogen. Aber er würde trotzdem niemals das Gefühl der Hilflosigkeit und manchmal auch der Angst vergessen, das er damals gespürt hatte.

Diese Gefühle waren wieder da gewesen, als er die Tränen auf Harros Gesicht gesehen und durch vorsichtiges Nachfragen erfahren hatte, dass Bertin Harro in einer dunklen Ecke des Lagerraums bedrängt hatte. Harro hatte ihm nicht dabei ins Gesicht sehen können, als er ihm von Bertins Anzüglichkeiten berichtet hatte, denen er nur dadurch entkommen war, dass er klein und flink an Bertin hatte vorbeihuschen können.

Es hatte Morten wütend gemacht und in ihm sofort den Wunsch geweckt, sich des kleinen Jungen anzunehmen und ihn zu beschützen. Er würde Harro ein wenig unter seine Fittiche nehmen und ihm beibringen, was er sich selbst mühsam erkämpft hatte. Und wenn er sich dabei mit Bertin anlegte, dann sollte es so sein. Vor Kerlen wie Bertin hatte er schon lange keine Angst mehr.

Mortens Blick wanderte zu Johann, der inzwischen mit missmutigem Gesichtsausdruck in seine Suppenschüssel starrte und vor sich hin zu brüten schien. Fast tat es Morten leid, dass er ihn erst wenige Minuten zuvor zurecht gewiesen hatte, denn im Vergleich zu Bertin war Johann harmlos und zu verwöhnt, um anderen wirklich zu schaden.

Weiter kam er in seinen Gedanken nicht, denn Harro stieß ihn an und suchte seine Aufmerksamkeit.

„Der Eimer ist leer, Morten. Hilfst du mir, ihn wieder zu füllen?"

Morten blickte in die leuchtenden Kinderaugen, die vertrauensvoll zu ihm aufsahen und strich dem Jungen lächelnd über das Haar.

„Natürlich, Harro."

Ohne weiter über Johann nachzudenken drehte er diesem den Rücken zu und ging Harro hinterher, die sich bereits den Eimer genommen hatte und mit hüpfenden, wieder sorglosen Schritten auf dem Weg zur Reling war.

BryggenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt