Teil I - Kapitel 11

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Kapitel 11

Am nächsten Morgen erwachte Johann mit äußerst guter Laune und es hielt ihn keinen Moment länger als notwendig auf seiner Schlafstatt. Er musste hinaus aus seiner stickigen, dunklen Kajüte und auf das Deck, sich vergewissern, dass er den gestrigen Abend nicht nur geträumt hatte. Er nahm sich gerade noch die Zeit, um sich Beinlinge und ein Untergewand überzuziehen, dann trat er auf Deck in die gleißende Morgensonne, die ihm, nach dem Sturm des vergangenen Tages, beinahe wie ein Wunder vorkam. Trotzdem nahm er sich nicht die Zeit, die Sonnenstrahlen zu genießen. Stattdessen ging er eiligen Schrittes auf das Heckkastell zu. Nur kurz griff er im Vorbeigehen bei Fedder nach einem Kanten harten Brotes, welches wohl noch aus Dragør stammte, und einem Becher Wasser, beides von Fedder als Frühstück angeboten, bevor er eilig die Leiter zum Heckkastell erklomm.

Wie er erwartet hatte, stand Morten am Ruder. Er wirkte ausgeruht, so als habe er die Strapazen des vergangenen Tages schon wieder vergessen. Mit lockerem Griff hielt er das Ruder und schaute mit erfahrenem Blick auf das Meer hinaus, das an diesem Morgen wieder ganz ruhig da lag. Bis auf eine leichte Brise ging kein Wind und sie machten nur langsame Fahrt.

Morten schien ihn noch nicht bemerkt zu haben und mit einem Mal verließ Johann ein wenig der Mut. Was hatte er sich dabei gedacht, sofort nach dem Aufstehen zu Morten zu laufen, ohne darüber nachzudenken, dass er diesen vielleicht bei der Arbeit stören könnte. Nur, weil sie am Abend zuvor eine freundliche Unterhaltung miteinander geführt hatten und dabei überein gekommen waren, diesen freundlichen Ton beizubehalten, konnte er ja nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass Morten ihn rund um die Uhr willkommen heißen würde. Vielleicht wäre es besser, bis zum Abend zu warten, bevor er sich Morten wieder näherte. Er wollte sich schon wieder abwenden und den Rückzug antreten, als Mortens Stimme ihn innehalten ließ.

„Wie ich sehe, bringst du mir mein Frühstück."

Ein Blick über die Schulter in Mortens Richtung zeigte ihm, dass er entdeckt worden war. Ein wenig schuldbewusst sah er auf den Kanten Brot und den Becher mit Wasser in seiner Hand, die er für sich mitgebracht hatte, ohne daran zu denken, dass Morten möglicherweise auch Hunger haben könnte.

Zögernd drehte sich Johann nun doch wieder um und ging auf Morten zu.

„Naja, ich ... also eigentlich ..."

Morten stemmte eine Hand in die Hüfte, während die andere am Ruder blieb.

„Soll dieses Gestammel etwa heißen, dass du nur an dich gedacht und mir kein Frühstück mitgebracht hast?"

Johann merkte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Kurz entschlossen streckte er Morten den Kanten Brot entgegen.

„Du kannst es gerne nehmen."

Doch Morten schüttelte nur breit grinsend den Kopf.

„Ich wollte dich nur auf den Arm nehmen. Fedder kommt nachher vorbei und bringt mir mein Frühstück. Er macht das beinahe jeden Morgen, weil ich meistens schon eine Weile am Ruder stehe, bevor er das Frühstück ausgibt. Bis dahin werde ich schon nicht verhungern."

Johann wusste nicht so genau, ob er erleichtert sein sollte, weil Morten ihm nicht böse war oder ob er ärgerlich sein sollte, weil Morten ihn einmal mehr zum Narren gehalten hatte. Ein Blick in Mortens Augen genügte Johann allerdings um zu erkennen, dass Mortens Neckerei gutmütiger Natur gewesen war und vermutlich zu dessen Charakter einfach dazu gehörte. Besser, er gewöhnte sich daran und lernte, sich nicht so schnell ins Bockshorn jagen zu lassen. Also lächelte er zaghaft zurück.

Sein Blick fiel auf ein Messer, das Morten an seinem Gürtel trug und es kam ihm eine Idee. Er stellte den Becher auf den Planken ab, trat noch einen Schritt auf Morten zu, deutete auf das Messer und fragte:

„Darf ich?"

Mortens Blick ging zwischen ihm und dem Messer hin und her, bis er schließlich nickte und ihm das Messer reichte. Johann nahm es entgegen und unter Mortens neugierigen, dann belustigten Blicken begann er, das Brot in zwei Hälften zu teilen. Da das Brot bereits hart war, bereitete es Johann einige Mühe aber nach einigen Minuten des Schneidens, Säbelns und Reißens hatte er schließlich zwei annähernd gleich große Kanten in den Händen. Zufrieden gab er Morten das Messer zurück und drückte ihm eine der beiden Hälften in die Hand.

„Wenn Fedder kommt, kannst du mir ja die Hälfte deiner Ration abgeben. Dann sind wir wieder quitt."

Morten lachte und einträchtig knabberten sie an ihren Brothälften herum, tunkten sie gelegentlich in den Becher mit Wasser, um sie ein bißchen weicher zu machen und Johann genoss die wärmenden Sonnenstrahlen und die neu gefundene Einträchtigkeit.

Eine Weile sprach niemand von ihnen und nach und nach wurde Johann diese Stille unangenehm. Er hatte das Gefühl, so vieles über Morten erfahren zu wollen, aber nicht genau zu wissen, wie er ein Gespräch mit ihm anfangen sollte. Es ärgerte ihn angesichts der Tatsache, dass sie zuvor nie Probleme gehabt hatten, miteinander zu streiten. Ein freundliches Gespräch zu führen schien dagegen viel schwieriger zu sein. Vielleicht, weil er immer noch ein wenig das Gefühl hatte, sich auf rohen Eiern zu bewegen und nicht gut einschätzen konnte, wie stark dieser neu errungene Friede zum jetzigen Zeitpunkt schon belastbar war. Er hätte Morten gerne zu dessen Vergangenheit befragt, welches Schicksal ihn dazu getrieben hatte, bereits als Kind zur See zu fahren, denn was Fedder ihm auf dem Markt in Dragør berichtet hatte, hallte immer noch in ihm nach und hatte viele Fragen aufgeworfen. Aber er wusste nicht, inwieweit dieser Geschichte schlechte Erinnerungen innewohnten und wollte das neu gewundene Band zwischen ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht über Gebühr strapazieren. So beschloss er schließlich, sich auf ein Terrain zu begeben, das er zum jetzigen Zeitpunkt für das sicherste hielt.

„Wer hat dir beigebracht, ein Schiff zu navigieren? Bisher dachte ich immer, dass Steuermänner durchweg ältere, sehr erfahrene Seeleute sein müssten. Du hingegen kannst doch kaum älter sein als ich."

Er hörte Morten neben sich schnauben.

„Erfahrung hat nicht immer etwas mit dem Alter zu tun."

Morten schenkte ihm einen abschätzenden Seitenblick.

„Wie alt bist du, Johann? Sechzehn Jahre? Siebzehn?"

Johann zwang sich, das kribbelnde Gefühl, das sich in ihm ausbreiten wollte, als er Morten seinen Namen sagen hörte, nicht zu beachten und stattdessen auf Mortens Frage zu antworten.

„Im April waren es siebzehn Jahre."

Morten nickte.

„Und den Großteil dieser siebzehn Jahre hast du, wie wir ja inzwischen wissen, in einem Studierzimmer verbracht. Dort hast du lesen, schreiben, rechnen und Latein gelernt."

Mortens Worte ließen das Kribbeln verschwinden und versetzten Johann augenblicklich zurück in eines ihrer letzten Streitgespräche. Abwehrend verschränkte er die Arme vor der Brust. Doch Morten, der diese Geste wohl richtig gedeutet hatte, schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das sollte kein Vorwurf sein. Ich wollte damit nur etwas verdeutlichen."

Noch immer ein wenig zögernd nahm Johann die Arme wieder nach unten.

„Und das wäre?"

„So, wie du einen Großteil der letzten siebzehn Jahre damit verbracht hast, allerlei Dinge zu lernen, die dir später für den Kaufmannsberuf nützlich sein werden, habe ich einen großen Teil der letzten neunzehn Jahre damit verbracht, bei jeder Gelegenheit einem Steuermann dabei zuzusehen, wie er ein Schiff bei jedem Wetter sicher zu segeln verstand und wie er anhand der Küstenlinie und der Ausrichtung der Sonne, des Mondes und der Sterne seinen Weg durch die Nord- und Ostsee finden konnte. So wie du den Ausführungen deiner Lehrer gelauscht haben dürftest, habe ich jede freie Minute genutzt, diesem Mann Löcher in den Bauch zu fragen und jede seine Antworten begierig in mich aufgenommen. Irgendwann durfte ich sogar unter seiner Aufsicht segeln und habe alles gelernt, was er mir beibringen konnte. Und glaube mir, das war eine Menge. Deshalb bin ich trotz meines jungen Alters erfahrener als viele altgediente Seemänner. Ich denke, den besten Beweis dafür habe ich gestern erbracht."

Johann hatte Morten gebannt gelauscht. Mortens Erzählungen erweckten Bilder in seinem Kopf von einem kleinen, blonden Jungen, der mit leuchtenden Augen zu einem Mann aufsah und bei jedem Wort an dessen Lippen hing. Aus dieser Vorstellung heraus fragte er:

„Wer war dieser Steuermann? Dein Vater?"

Sofort bemerkte Johann, dass er mit seinen unbedachten Worten etwas Falsches gesagt hatte, denn Mortens Gesicht verfinsterte sich. Er wollte sich schon entschuldigen, als sich Mortens Gesichtszüge wieder entspannten. Er hörte, wie Morten tief Luft holte und dann den Kopf schüttelte.

„Er war nicht mein Vater. Ich habe keine Eltern."

Darauf wusste Johann zunächst nichts zu erwidern. Er hätte gerne mehr erfahren, traute sich aber nicht danach zu fragen. Einige Augenblicke lang hoffte er, dass Morten von sich aus weiterreden würde, aber Morten schwieg und blickte auf das Meer hinaus. Schließlich räusperte sich Johann und stellte die nächstbeste Frage, die ihm einfiel.

„Ist Lutz der Steuermann, der dir so vieles beigebracht hat?"

Er hatte die Frage noch nicht zu Ende gestellt, als Johann auch schon wusste, wie abwegig sie im Grunde war. Denn jeder, der Lutz und Morten miteinander beobachtete, wusste, dass die beiden kaum etwas gemeinsam hatten. So konnte er es Morten auch schlecht übel nehmen, als dieser anfing zu lachen.

„Nein, sicher nicht."

Doch dann wurde Morten wieder ernst.

„Er ist während eines großen Sturms, viel größer noch als der Sturm gestern, von einer Welle erfasst und über Bord gespült worden. Niemand konnte etwas tun, um ihn zu retten. Er ist ertrunken. Ich habe das Ruder übernommen und das Schiff davor bewahrt, am Ufer zu zerschellen. Seitdem bin ich als Steuermann anerkannt."

Johann merkte, dass der Tod des Steuermanns Morten nicht unberührt gelassen hatte. Deshalb sagte er:

„Es tut mir leid."

Morten nickte ihm kurz und verhalten zu.

„Er war ein guter Mann und immer freundlich zu mir. Sein Tod erinnert mich immer wieder daran, die Ehrfurcht vor dem Meer nicht zu verlieren. Das Meer und die Sturmgewalten verzeihen keine Fehler. Sie sind unberechenbar und manchmal sind sie einfach stärker als man selbst."

Johann nickte nachdenklich bei Mortens Worten. Die Gefahren, denen sich die Seemänner jeden Tag an Bord eines Schiffes aussetzten, waren ihm erst am gestrigen Tag so richtig bewusst geworden.

„Ich bringe dir dein Frühstück, Morten."

Johann war so vertieft in ihr Gespräch gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass Fedder das Heckkastell erklommen hatte. Fedders dröhnender Bass ließ ihn nun zusammenfahren. Er drehte sich um und sah den gutmütigen Koch mit einem Becher und einem Stück Brot in der Hand auf sich und Morten zukommen. Wenn Fedder überrascht war, ihn bei Morten am Ruder zu sehen, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

„Danke, Fedder."

Morten nahm den Becher entgegen und nahm einen großen Schluck. Die Sonne schien bereits warm auf das Schiff. Dann nickte er mit dem Kinn zu dem Kanten Brot, das Fedder noch immer in der Hand hielt.

„Gib das Johann."

Wieder breitete sich ein wohliges Kribbeln in Johanns Bauch aus, als er seinen Namen aus Mortens Mund hörte. Er nahm das Brot von Fedder entgegen, der nun doch ein wenig verwirrt zwischen ihm und Morten hin und her sah, dann aber nur mit den Schultern zuckte und sich zum Gehen wendete.

Johann wartete gar nicht darauf, dass Fedder das Heckkastell verließ, sondern griff, dieses Mal ohne zu zögern und ohne zu fragen, nach Mortens Messer an dessen Gürtel und begann damit, auch dieses Stück Brot in zwei Hälften zu teilen, während er sich gedanklich fest vornahm, morgen gleich zwei Portionen bei Fedder zu holen, bevor er zu Morten ging.

Wieder dauerte es eine ganze Weile, bis er es geschafft hatte, das Brot in zwei Hälften zu teilen. Doch schließlich konnte er Morten zufrieden mit sich das Messer und den zweiten Teil ihres Frühstückes übergeben. Wieder aßen sie stumm und einträchtig und benutzten das verbliebene Wasser in Mortens Becher dazu, das harte Brot ein wenig aufzuweichen und Johann begann sich immer wohler in seiner Haut zu fühlen. Er beobachtete Morten aus den Augenwinkeln heraus, betrachtete dessen Profil, den blonden Pferdeschwanz, die gebräunte Haut, die blauen Augen, die gerade Nase und das leicht vorstehende Kinn, das Morten immer einen willensstarken, tatkräftigen Ausdruck verlieh und spürte wieder das freudige Kribbeln bei dem Gedanken, dass dieser junge Mann, der so ganz anders war als er, tatsächlich sein Freund werden wollte.

Johann hatte in seinem bisherigen Leben noch nie einen richtigen Freund gehabt. Er hatte seine Zeit meist unter Erwachsenen verbracht – seinen Eltern, den Geschäftspartnern seines Vaters, den Lehrern. Mit Gleichaltrigen war er selten zusammen gekommen und wenn, dann meist nur so flüchtig, dass sich keine Freundschaft hatte bilden können. Die erste Gleichaltrige, mit der er regelmäßig und über einen längeren Zeitrum hinweg Zeit verbracht hatte, war Klara gewesen. Da dies aber nicht der Anbahnung einer Freundschaft, sondern der Anbahnung einer Hochzeit diente, verschwendete er kaum einen Gedanken daran. Seine Gedanken waren von Morten eingenommen, im Grunde seit sie sich das erste Mal begegnet waren. Und endlich konnte er diese Gedanken in eine erfreuliche Richtung lenken.

Plötzlich fiel es ihm auch gar nicht mehr so schwer, ein Gespräch mit Morten anzufangen. Er bat ihn darum, ihm von den Ländern zu erzählen, die er bereits bereist hatte und lauschte sodann mit wachsender Begeisterung Mortens Geschichten und Anekdoten, die ihn abwechselnd zum Lachen und zum Staunen brachten und wieder einmal das Fernweh in ihm weckten, das ihn seit seiner Kindheit als stummer Begleiter auf Schritt und Tritt verfolgt hatte. Mortens Worte ließen vor seinem inneren Auge Bilder entstehen und ohne, dass er es recht merkte, stellte er sich vor, all die Reisen und Abenteuer, von denen Morten sprach, mit diesem gemeinsam, Seite an Seite, erlebt zu haben.

Als er das Heckkastell schließlich nach vielen, vielen Stunden verließ, um sich zu erleichtern, pfiff er leise vor sich. Die verwunderten Gesichter der übrigen Seemänner nahm er gar nicht wahr, noch zu sehr vertieft in die Geschichten über Russland, Gotland und Norwegen, die Morten ihm in den letzten Stunden erzählt hatte.

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