Teil I - Kapitel 15

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Kapitel 15

Einige Tage waren seit dem ausgelassenen Abend an Bord der 'Agnes' vergangen und die Besatzung war zu ihrer üblichen Routine zurückgekehrt. Bertin schien vergessen zu sein, die täglichen Mühen an Bord eines Schiffes zu ermüdend, um noch einmal ans Feiern zu denken.

Johann bedauerte dies ein wenig, da ihm der Abend mit Geschichten und Tanz gut gefallen hatte. Insbesondere das Tanzen hatte ihm nach anfänglichen Zweifeln sehr viel Spaß gemacht. Er hatte noch nie zuvor auf eine so freie Art und Weise getanzt. Er hatte als Teil seiner Ausbildung auch Tanzunterricht genossen und hätte sich in der Lage gesehen, auf einem Bankett mit dem Gelernten auf der Tanzfläche zu bestehen. Er hatte immer geglaubt, dass Tanzen festen Regeln zu folgen habe. Die Idee, dass man sich aber auch nach eigenem Willen zu einer Musik bewegen konnte, war ihm bisher noch nicht gekommen. Ebenso wenig war ihm bisher bewusst gewesen, wie viel Spaß es machen konnte, mit jemandem zusammen zu tanzen, sich aufeinander zuzubewegen, umeinander herum und sich dabei sogar zu berühren. Diese Art zu tanzen hatte ihn an diesem Abend in ihren Bann gezogen und auch einige Tage später hatte dieser Bann noch Wirkung auf ihn.

Die Veränderungen zwischen ihm und Morten gingen so rasant vonstatten, dass er manchmal Mühe hatte, mit ihnen mitzuhalten. Zuerst waren sie Feinde gewesen, dann Befriedete, Verbündete und schließlich Freunde. Johann hatte noch nie einen Freund gehabt, deshalb wusste er nicht, ob es üblich war, rund um die Uhr zu versuchen, so viel Zeit wie möglich mit dem Freund zu verbringen, stets zu wissen, wo er sich aufhielt und ständig dessen Nähe zu suchen. Was er wusste war, dass er diese Nähe zu Morten genoss. Sie war neu und aufregend und so völlig anders als alles, was er bisher erlebt hatte.

Auch jetzt wusste Johann genau, wo er Morten finden würde.

Er stieg die Leiter zum Bugkastell hinauf und fand tatsächlich Morten, der an der Reling lehnte und vom Schiff aus auf den Hafen blickte, an dem sie mit der 'Agnes' vor nicht ganz einer halben Stunde angelegt hatten. Schon vor einigen Tagen hatten sie norwegische Gewässer erreicht und der Schiffer hatte beschlossen, in einer kleinen norwegischen Hafenstadt einen letzten Halt einzulegen und noch einmal ihre Vorräte aufzustocken, bevor die letzte Etappe ihrer Reise nach Bergen begann.

Morten war aufgeregt gewesen, als sie das erste Stück norwegische Küste erblickt hatten. Auch, wenn er schon lange zur See fuhr und seine Kindheitserinnerungen an Norwegen nicht die besten waren, betrachtete er Norwegen trotzdem als seine Heimat. Das zumindest hatte er Johann an diesem ersten Abend in norwegischen Gewässern anvertraut. Johann hatte es nachvollziehen können. Man fühlte sich wahrscheinlich immer dort verwurzelt, wo man geboren und aufgewachsen war, auch wenn nicht alle Erinnerungen glücklich waren.

Es war Morten anzusehen gewesen, wie sehr sich darauf gefreut hatte, bei ihrem Zwischenhalt seinen Fuß wieder auf norwegischen Boden zu setzen, die Luft seiner Heimat zu atmen und in seiner Muttersprache zu sprechen, anstatt mit der Mannschaft und ihm in Deutsch. Ebenso groß musste aber nun die Enttäuschung darüber sein, dass das Los entschieden hatte, dass er an diesem Abend einer derjenigen sein würde, die an Bord des Schiffes Wache halten mussten und es nicht verlassen durften. Die Mannschaft hatte untereinander ausgelost, wobei diejenigen, die in Dragør bereits Wache gehalten hatten, außen vor geblieben waren. Das Los hatte sich gegen Morten entschieden und einige Sekunden lang war ihm die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben gewesen. Er hatte anschließend sogar versucht mit dem Schiffer zu verhandeln und seine Sprachkenntnisse in die Waagschale geworfen, die es Fedder sicherlich wieder erleichtert hätten, die benötigten Vorräte zu kaufen. Doch der Schiffer, der immer darauf achtete, keinen Seemann zu benachteiligen oder zu bevorzugen, war unnachgiebig gewesen. Auch Fedder hatte ihm versichert, dass er die benötigten Vorräte auch ohne Morten Hilfe würde beschaffen können. Und so hatte sich Morten schließlich mit einem gezwungenen Lächeln in sein Schicksal gefügt. Allein die Tatsache, dass er sich von den anderen auf das einsame Bugkastell zurückgezogen hatte, zeigte Johann, dass Morten unglücklicher darüber sein musste, an Bord bleiben zu müssen, als er bereit war nach außen zu zeigen.

Johann stellte sich neben Morten an die Reling und blickte mit ihm zusammen eine Weile stumm auf den Hafen. Das Städtchen machte von diesem Blickwinkel aus nicht viel her. Die Häuser rund um den kleinen Hafen waren einfach gehalten und eher schäbig. Fischernetze hingen zum Trocknen aus. Es roch nach Fisch und Tang.

Schließlich hielt Johann die Stille nicht mehr aus.

„Ich könnte für dich hier bleiben."

Morten wandte sich ihm sichtlich überrascht zu und für einen kurzen Moment schien er Johanns Angebot tatsächlich zu überdenken. Dann aber schüttelte er bedauernd den Kopf.

„Der Schiffer würde es nie erlauben. Außerdem habe ich bereits einige Jahre meines Lebens in Norwegen verbracht. Für dich dagegen ist es der erste Besuch. Und möglicherweise bekommst du so bald nicht mehr die Möglichkeit dazu. Also solltest du die Gelegenheit nutzen und dich in der Stadt umsehen."

Und mit einem warmen Lächeln fügte Morten hinzu:

„Aber danke für dein Angebot."

Mortens Lächeln ließ sein Herz ein wenig schneller schlagen und ließ ihn wie von selbst den Kopf schütteln.

„Nein. Dann bleibe ich lieber bei dir und leiste dir Gesellschaft."

Tatsächlich war der Gedanke, ohne Morten die Stadt zu erkunden, nicht sehr verlockend. Allein der Gedanke daran machte Johann unzufrieden, so, als würde ohne Morten das entscheidende Moment fehlen, das diesem Ausflug die Würze gab. Es erschien ihm fade und reizlos und er wusste auch nicht recht, was er ohne Morten in dieser Stadt anfangen sollte.

Doch wieder schüttelte Morten den Kopf, diesmal vehementer.

„Ich möchte aber, dass du gehst und den Nachmittag und den Abend genießt. Nur, weil ich hier bleiben muss, heißt das doch nicht, dass auch dir der Tag verdorben sein muss. Außerdem habe ich ja eine Aufgabe, der ich nachgehen muss. Da bliebe mir sowieso wenig Zeit für dich."

Johann brannte der Widerspruch auf der Zunge, doch er schluckte ihn gerade noch rechtzeitig hinunter. Er wusste im Grunde, dass Morten recht hatte und es keinen vernünftigen Grund gab, warum er den Nachmittag und den Abend an Bord der 'Agnes' statt an Land verbringen sollte. Im Grunde wusste er ja selbst nicht so genau, warum es ihm so sehr widerstrebte, ohne Morten von Bord zu gehen. Und wenn Morten danach fragen sollte, würde er keine Antwort darauf haben. Also nickte er widerwillig, während er sich von der Reling abstieß und sich umdrehte.

„Also gut. Dann mache ich mich mal auf den Weg."

Johann warf Morten noch einen Seitenblick zu, so als hoffe er, dass Morten es sich noch einmal anders überlegen und ihn darum bitten würde zu bleiben. Aber Morten nickte ihm nur zu und wandte seinen Blick dann wieder dem Hafen und der sich dahinter erstreckenden Stadt zu.

Ein wenig enttäuscht, ohne genau zu wissen warum, verließ Johann das Bugkastell und ohne rechte Lust auch das Schiff. Er wusste nicht so recht, wohin er sich wenden sollte. Von Fedder war weit und breit nichts mehr zu sehen und auch von den übrigen Seeleuten fehlte jede Spur. Also beschloss er, das norwegische Städtchen auf eigene Faust zu erkunden.

Er wanderte ziellos durch unzählige Gassen, in denen er bald die Orientierung verlor. Teils einfache, schäbige Häuser aus Holz und niedrigen Dächern wurden abgelöst von besseren Steinbauten, die den wohlhabenderen Bürgern der Stadt gehörten. Doch nirgendwo konnte er denselben Wohlstand erkennen, wie er ihn aus Lübeck gewohnt war. Hier schienen überwiegend Tagelöhner, Fischer, Handwerker, auch der eine oder andere Händler zu wohnen. Kaufleute, deren Geschäfte durch den steigenden Handel im Nord- und Ostseeraum wesentliche Bedeutung erlangt hatten, schien es in diesem Ort nicht zu geben. Die Bewohner des Ortes, die ihm in den Gassen begegneten, gingen ihren Beschäftigungen nach, in der Regel wohlgenährt aber ohne sichtlich zur Schau getragenen Wohlstand. Sie sprachen in einer Sprache, die sich für seine Ohren kaum von dem unterschied, was in Dragør gesprochen worden war.

Ein wenig enttäuscht stellte Johann fest, dass diese subtile Andersartigkeit, die ihn in Dragør noch so sehr fasziniert hatte, ihn nun beinahe vollkommen kalt ließ. Irgendetwas hatte sich seit Dragør verändert, nur hatte er Schwierigkeiten, diese Veränderung zu benennen. Es war ein wenig, als habe sich über die Faszination der Reise selbst eine andere Art der Faszination geschoben, die plötzlich alles andere vergleichsweise farblos erscheinen ließ. Es fehlte etwas, nur was, das wusste Johann nicht.

Nachdem er eine ganze Weile ziellos durch die Stadt gegangen war, entschied er sich schließlich dazu, nach Fedder und nach Harro Ausschau zu halten, die zusammen die Einkäufe erledigten. Er nahm auf gut Glück eine Gasse, von der er annahm, dass sie ihn in Richtung des Stadtkerns bringen würde. Und tatsächlich wurden die Gassen schließlich breiter, die Häuser größer, mit kleinen Geschäften im Erdgeschoss. Die Menschen drängten sich dichter in diesem Teil der Stadt, doch so sehr er auch Ausschau hielt – Fedder und Harro konnte er nicht entdecken. Die Stadt hatte keinen Markt und Johann wusste nicht, welche Läden Fedder aufsuchen würde, um das Benötigte zu kaufen. Schließlich gab er es auf nach Fedder zu suchen und beschloss dagegen, zurück in Richtung Hafen zu gehen und in einer der vielen Kneipen nach der übrigen Besatzung der Agnes zu suchen. Er hatte Hunger und hoffte, dass möglicherweise ein Humpen Bier ihn von seinen seltsam freud- und lustlosen Gedanken ablenken würden.

Er fand den Weg zurück zum Hafen erst nach einer ganzen Weile wieder. Er war durch die Gassen geirrt, ohne so recht zu wissen, wohin er eigentlich ging. Einmal hatte er versucht, einen Einwohner nach dem Weg zu fragen, hatte aber schnell einsehen müssen, dass dieser Versuch aussichtslos war. Er konnte kein Norwegisch und der Fremde kein Deutsch. Auch mit Latein und Französisch kam er nicht weiter. Er dachte an Morten, der sich in dieser Stadt wie zuhause gefühlt hätte, wenn er nicht auf dem Schiff hätte bleiben müssen, und fühlte sich gleich noch ein wenig fremder.

Irgendwann kamen ihm die Gassen wieder bekannt vor und kurze Zeit später fand er sich endlich in der Nähe des Hafens wieder. Er konnte den Mast der 'Agnes' über den Hütten erkennen, widerstand aber der Versuchung, sich zurück zur 'Agnes' zu machen. Er hatte Morten versprochen, den Ausflug zu genießen. Und auch, wenn er tatsächlich weit davon entfernt war, wollte er Morten doch nicht enttäuschen.

Stattdessen suchte er die Kneipen ab, die in unmittelbarer Nähe zum Hafen waren und fand auch bald den Großteil der Mannschaft der 'Agnes' in einer der Spelunken an einem langen Tisch sitzen. Auch Fedder war dabei. Offensichtlich hatte der Einkauf nur wenig Zeit in Anspruch genommen. Harro dagegen konnte Johann nirgendwo entdecken.

Entschlossen setzte er sich zu Fedder und den anderen dazu, die ihn auch ohne Morten wie einen alten Freund in ihren Reihen aufnahmen. Ein wenig fühlte er sich dadurch aufgeheitert, genug, um zu spüren, wie hungrig er eigentlich war.

Er bestellte auf Fedders Geheiß hin Lutefisk und dazu einen Humpen Bier. Ein wenig vorsichtig probierte er den aufgeweichten Trockenfisch, der anders aussah, als jeder Fisch, den er bisher gegessen hatte. Doch bereits nach dem ersten Bissen stellte er fest, dass er deutlich besser schmeckte, als er aussah. Mit etwas mehr Zuversicht ließ er sich daraufhin auch den Erbsenbrei schmecken. Erst, als sein Teller geleert war und er ihn mit angenehm vollem Bauch von sich schob, nahm er sich die Muse, sich ein wenig umzusehen.

Die Kaschemme unterschied sich kaum von derjenigen, die sie in Dragør besucht hatten. Es war ebenso dämmrig, ebenso einfach und ebenso laut und stickig. Fast hätte er sich davon überzeugen können, noch immer in Dragør zu sein, wenn ihm gegenüber nicht Fedder, sondern Morten gesessen hätte. Aber so war er sich der Abwesenheit seines Freundes zu sehr bewusst. Dies änderte sich auch nicht durch den Humpen Bier, den er im Laufe des Abends leerte. Statt ihn abzulenken und ihn fröhlich zu machen, schien er durch das Bier Mortens Fehlen nur noch deutlicher wahrzunehmen. Die immer ausgelassenere Stimmung der anderen drang gar nicht zu ihm durch und etwas verdrießlich musste er sich gegenüber zugeben, dass ihm ohne Morten gar nichts mehr zu gefallen schien. Auch ein zweiter Humpen Bier, den er dieser Erkenntnis zum Trotz noch getrunken hatte, änderte daran nichts.

Mit bereits etwas mehr Mühe als gewöhnlich, seine beiden Augen miteinander in Einklang zu bringen, wandte er schließlich den Kopf, sah durch eines der nur notdürftig mit löchriger Tierhaut verhängten Fenster nach draußen und sah, dass die Sonne inzwischen untergegangen und es draußen bereits tiefe Nacht war.

Es dauerte nicht lange, bis er seinen Entschluss gefasst hatte.

Mit etwas mehr Kraft, als streng genommen nötig gewesen wäre, schob er im Aufstehen seinen Stuhl zurück. Kurz musste er sich an der Tischkante festhalten, um sein Gleichgewicht zu finden, das offensichtlich etwas langsamer war als er. Mit weit ausholenden Gesten holte er den Wirt herbei, bezahlte seine Zeche und machte sich dann mit leicht unsicheren Schritten auf den Weg zur Tür.

„Findest du den Weg alleine zurück, Johann?"

Er drehte sich noch einmal herum, Fedder zu, der ihn mit zusammengekniffenen, selbst nicht mehr ganz nüchternen Augen musterte und wedelte mit der Hand durch die Luft, als wolle er Fedders Frage wegwischen.

„Alles in Ordnung."

Das schien Fedder zu genügen, denn er wandte sich wieder seinem Humpen und seinen Kameraden zu. Johann nutzte den Moment, um die Spelunke endgültig zu verlassen. Draußen atmete er tief durch. Es hatte angefangen zu nieseln und Wolken verdeckten den Mond und die Sterne. Das Licht, das durch die Fenster der Häuser auf die Gasse fiel, trug nur wenig dazu bei, die Dunkelheit zu vertreiben. Aber es reichte aus, um über den Dächern der Häuser den Mast der 'Agnes' aufragen zu sehen, so dass es Johann trotzdem nicht schwer fiel, seinen Weg zurück zu finden.

Je näher er der 'Agnes' kam, desto leichter wurde ihm ums Herz. Die Anspannung, die den ganzen Tag über sein Begleiter gewesen war, ließ nach, verwandelte sich in etwas, das er mit Vorfreude umschrieben hätte, wenn er zu solchen Unterscheidungen noch fähig gewesen wäre. Seine Schritte beschleunigten sich, je näher er der 'Agnes' kam, bis er zum Schluss beinahe im Laufschritt durch die Nacht eilte. Sein Herz schlug im schnellen Takt seiner Füße, als er das Schiff endlich erreicht hatte. Seine Geschwindigkeit kaum drosselnd betrat er den Steg, der ihn wieder an Bord bringen würde, doch eine Stimme von Deck des Schiffes ließ ihn innehalten.

„Halt. Wer da?"

Johann grinste in die Nacht, denn diese Stimme hätte er unter hunderten wiedererkannt.

„Ich bin es, Johann."

Jetzt sah er gegen den nur schwach erhellten Nachthimmel Mortens Gestalt. Johann konnte sein Gesicht nicht sehen aber er hatte keine Zweifel, dass es sich um Morten handelte. Ebenso wie Mortens Stimme würde er Mortens Silhouette immer und überall erkennen.

Die letzten Schritte über den wackeligen Steg nahm er mit wenigen, langen Schritten, den Blick unverwandt auf Morten gerichtet, der an der Reling auf ihn wartete, bis er ihn schließlich fast erreicht hatte. Aus dieser Entfernung konnte er im schwachen Licht der Sterne beinahe Mortens Gesicht ausmachen. Der Versuch ließ ihn aber unachtsam werden. Auf seinem letzten Schritt an Bord des Schiffes stolperte er und fiel Morten in die Arme, der ihn geistesgegenwärtig auffing. Sein Ohr lag an Mortens Brust und für einige Momente hörte er nichts anderes, als Mortens kräftigen Herzschlag, fühlte nichts anderes als Mortens kräftige Arme um seine Schultern und die Wärme, die von Mortens Körper trotz der frischen Nachtluft ausging und die Welt schien still zu stehen.

Doch dann räusperte sich Morten leise und zwang ihn dazu, in das Hier und Jetzt zurückzukehren.

„Landgang scheint dir nicht zu bekommen. Jedes Mal büßen deine Beine ihre Standfestigkeit ein."

Mit Mortens Hilfe gelang es Johann, sich wieder aufzurichten. Das Bedauern, das er dabei empfand, ließ ihm die Hitze ins Gesicht steigen und er war froh, dass Morten dies in der schummrigen Dunkelheit der Nacht verborgen bleiben würde.

„Ich bin das starke Bier noch immer nicht gewohnt."

Morten lachte leise.

„Bis wir wieder zurück in Lübeck sind, wirst du noch einige Gelegenheiten bekommen, dich daran zu gewöhnen."

„Hoffentlich bist du dann wieder dabei."

Morten legte den Kopf schief und selbst im schwachen Licht konnte Johann seine weißen Zähne aufblitzen sehen.

„Hast du mich etwa vermisst?"

„Ja."

Wieder stieg Johann die Hitze ins Gesicht und er verfluchte seine durch das Bier gelockerte Zunge. Doch Morten lachte nur leise.

„Ich wäre gerne dabei gewesen. Den ganzen Tag Wache zu stehen ist sehr ermüdend."

Dann umfasste er Johann am Handgelenk und führte ihn mit sich, setzte sich dem Steg gegenüber mit dem Rücken an die Reling gelehnt hin und zog Johann neben sich.

„Erzähl mir noch ein bißchen von deinem Tag, bevor du schlafen gehst. Ich habe noch die ganze Nachtwache vor mir. Da kann ich ein wenig Ablenkung ganz gut gebrauchen. Es sei denn, du bist so müde, dass dir gleich die Augen zufallen."

Heftiger als nötig gewesen wäre, schüttelte Johann den Kopf.

„Ich bin hellwach."

Und Johann begann zu erzählen, zunächst ein wenig zögerlich, da er nicht so recht wusste, wie er Morten gegenüber zugeben sollte, dass er den ganzen Tag über im Grunde nur ziellos durch die Ortschaft gewandert war und dann am Abend seine üble Laune im Bier ertränken wollte. Doch je mehr er erzählte, desto mehr merkte er, dass ihm während seines Streifzuges mehr schöne, merkwürdige und erwähnenswerte Dinge aufgefallen waren, als er zunächst hatte wahrhaben wollen. Beinahe kam es ihm so vor, als würde er sie nun mit Morten noch einmal erleben und sie dadurch mit ganz anderen Augen sehen. Als er dann von dem Lutefisk berichtete, lachte Morten sogar vor sich hin, bevor dem Lachen ein leises Seufzen folgte.

„Ich würde im Moment alles für eine Portion Lutefisk geben."

Ohne nachzudenken legte Johann Morten den Arm um die Schulter.

„Beim nächsten Landgang lade ich dich zu der größten Portion Lutefisk ein, die wir bekommen können."

Kurz lehnte sich Morten in die Umarmung, dann richtete er sich wieder auf und Johann nahm ihm den Arm wieder von der Schulter.

„Ich erinnere dich daran."

Dann schwiegen sie eine Weile, hörten dem leise Plätschern des Wassers und den entfernten Geräuschen der kleinen Stadt zu. Die Nacht war kühl aber in seinen Umhang gehüllt und dicht neben Morten an der Reling gedrängt war Johann nicht kalt, im Gegenteil. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte er sich wieder rundum wohl und langsam aber sicher kam die Müdigkeit, die sich, begünstigt durch das starke Bier, in seinen Gliedern festsetzte und es ihm schließlich beinahe unmöglich machte, die Augen offen zu halten. Wie von selbst sank sein Kopf auf Mortens Schulter und er hatte nicht mehr die Kraft, ihn wieder zu heben. Und mit einem Gefühl innerer Zufriedenheit, das er den ganzen Tag über vermisst und nun wiedergefunden hatte, schlief er schließlich ein.

~ ~ ~
Mit Johanns Kopf auf seiner Schulter wagte sich Morten nicht mehr zu bewegen. Er hielt ganz still, lauschte auf Johanns Atemzüge und musste nicht lange warten, bis er hören konnte, dass Johann eingeschlafen war.

Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass nicht nur die Aussicht, einen Landgang auf norwegischen Boden auf dem Schiff verbringen zu müssen, seine Laune an diesem Tag empfindlich beeinträchtigt hatte, sondern auch, dass er Johann bei dessen Landgang nicht hatte begleiten dürfen. Er hätte die Zeit gerne mit Johann verbracht, ihm Dinge gezeigt und erklärt und mit seiner Muttersprache aufgetrumpft. Doch so hatte er zusehen müssen, wie Johann sich alleine auf den Weg gemacht hatte. Seine Laune war so mies gewesen, dass sich die anderen Unglücklichen, die wie er zur Wache verdonnert worden waren, bald von ihm zurückgezogen und ihn sich selbst überlassen hatten. Es war ihm gerade recht gewesen und er hatte sich den Platz am Steg gesichert, immer in der heimlichen Hoffnung, dass Johann bald zurückkehren würde.

Erst, als dieser tatsächlich den Steg hinauf gestolpert war, hatte sich seine Laune wieder beträchtlich verbessert und hier, mit Johann neben sich an der Reling, war er beinahe wieder zufrieden und konnte den Tag, den er an Bord des Schiffes hatte verbringen müssen, fast vergessen.

Er lauschte eine Weile Johanns Atemzügen und als er sicher war, dass dieser tief und fest schlief, ließ er dessen Kopf langsam und vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, von seiner Schulter in seinen Schoss gleiten und bettete ihn dort so bequem wie möglich. Dabei achtete er darauf, dass Johann weiterhin eng in seinen Umhang eingewickelt blieb.

Im Licht des Mondes, der in diesem Moment zwischen zwei Wolken zum Vorschein kam, betrachtete er Johanns Gesicht, das im Schlaf noch weicher, unschuldiger aussah als im wachen Zustand und irgendetwas schnürte sich Morten ums Herz, ließ es kurz, beinahe schmerzhaft zusammenzucken. Dann verschwand der Mond wieder hinter der nächsten Wolke und der Moment war vorbei. Morten atmete einmal tief durch. Dann senkte sich seine Hand langsam und zögernd auf Johanns Kopf und blieb dort liegen. Den Blick unverwandt auf den Steg gerichtet, Johanns Kopf in seinem Schoß, die Fingerkuppen in Johanns weichem Haarschopf, hielt er die ganze Nacht über Wache.

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