Teil I - Kapitel 18

164 13 0
                                    

Kapitel 18

Trotz allem stand Morten am nächsten Morgen pünktlich bei Sonnenaufgang vor dem Kontor der Familie Benecke und klopfte an das Tor.

Morten hatte einen guten Teil der Nacht gebraucht, um seinen Ärger über Gustav soweit zu vergessen, dass er sich wieder auf das Wesentliche hatte besinnen können, nämlich dass Johann sich auf ihn verließ, ganz gleich was sein Großonkel davon hielt. Morten hatte sich in Erinnerung gerufen, unter welch großem Druck Johann stand, wie sehr er sich vor diesem Teil der Reise gefürchtet hatte und dass er Johann versprochen hatte, ihn nach besten Kräften zu unterstützen. Er würde seine Freundschaft mit Johann, die ihm im Verlauf der Reise so wichtig geworden war, nicht wegen Gustav aufs Spiel setzen. Stattdessen würde er versuchen, in Gustavs Gegenwart die Zähne zusammen zu beißen und sich in die Rolle seines Standes zu fügen, wie es von ihm erwartet wurde. Was zählte war allein, was Johann von ihm hielt und dessen Meinung war, zumindest soweit es ihn betraf, nicht mehr von Standesdenken verstellt.

Mathis öffnete ihm auf sein Klopfen hin und begrüßte ihn mit den Worten:

„Du wirst in der inneren Stube erwartet."

Morten ging hinein, die Treppe nach oben, durchquerte die äußere Stube, in der noch Erik und zwei weitere Gehilfen saßen und gerade ihr karges Frühstück beendeten. Er grüßte freundlich im Vorbeigehen, dann klopfte er an die Tür zur inneren Stube. Dumpf hörte er Gustavs Stimme aus dem Inneren des Zimmers, die ihn hereinbat. Er öffnete die Tür und betrat den Raum. Johann und Gustav saßen an Gustavs großen Schreibtisch über eine Wachstafel gebeugt. Beide Kaufleute hatten sich für die anstehenden Verhandlungen herausgeputzt. Morten kam der Tappert an Johann inzwischen fremd vor, hatte Johann in den letzten Wochen an Bord der 'Agnes' doch kaum noch Wert auf sein Äußeres gelegt. Hier in Bergen war Johann nun zu seinen Tapperts zurückgekehrt und obwohl Morten wusste, dass dies natürlich notwendig war, kam Johann ihm in seinem feinen Zwirn wie verkleidet vor.

Bei seinem Eintreten sah Johann sofort auf. Es war ihm anzusehen, dass er nicht viel geschlafen hatte. Morten stellte sich vor, wie er sich unruhig in seinem feinen Bett hin und her gewälzt hatte, die Gedanken bereits bei den Verhandlungen. Er schenkte Johann ein kleines, aufmunterndes Lächeln, bevor er mit aller Höflichkeit, die er aufbringen konnte, Gustav begrüßte. Der Blick, den Gustav ihm zuwarf, zeigte ihm, dass sich dessen Vorbehalte gegen seine Anwesenheit bei den kommenden Verhandlungen nicht über Nacht in Luft aufgelöst hatten. Sicherlich war es nur Johanns Drängen zu verdanken, dass er überhaupt hereingebeten worden war und nicht wie ein Bittsteller auf der Straße warten musste.

Morten bemühte sich einmal mehr, sich unsichtbar zu machen, während er darauf wartete, dass die beiden Kaufleute fertig wurden, womit auch immer sie gerade beschäftigt waren.

Er musste nicht lange warten. Schon nach wenigen Minuten packte Johann seine Wachstafel wieder zusammen, Gustav griff nach einem Kerbholz und gemeinsam richteten sie sich auf. Johann nickte Morten zu, sichtlich nervös aber mit entschlossen gehobenem Kinn.

„Es geht los."

Morten folgte Johann und Gustav wieder durch die äußere Stube, die inzwischen leer war und aus dem Tor hinaus. Sie gingen durch Tyskebyggen in östliche Richtung, um die Landzunge herum, bis das Stimmengewirr der vielen Menschen um sie herum nicht mehr deutsch, sondern norwegisch war.

Morten kannte in Bergen jede Straße und jede Gasse. Er wusste noch immer, wo sich das Findelhaus befand, in dem er vier Jahre seines Lebens verbracht hatte. Er wusste auch noch, wo seine Mutter begraben lag, auch wenn er diesen Ort seit Jahren nicht mehr aufgesucht hatte. Das Bild seiner Mutter, die blass und still von den Nachbarinnen in einen Leichensack verschnürt und anschließend von mehreren Männern unter der Aufsicht eines Priesters in die Erde hinabgelassen worden war, hatte sich ihm trotz seines jungen Alters unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Seinen Vater, ebenfalls Seemann, hatte er niemals kennengelernt. Er war auf dem Meer in einem Sturm ertrunken, kurz bevor Morten geboren wurde.

BryggenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt