Teil I - Kapitel 21

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Bereits vor Sonnenaufgang war Johann wieder auf den Beinen.

Er hatte nur kurz geschlafen. Trotzdem fühlte er sich nicht müde, sondern voller Tatendrang, als er beim allerersten Licht des Tages, das seine Kammer notdürftig erhellte, aus seinem Alkoven sprang, um sich zu waschen und anzuziehen.

Die ganze Nacht über hatte er an Morten denken müssen, an das, was geschehen war und das, was an diesem neuen Tag vielleicht noch geschehen würde. Er hatte sich in den schillerndsten Farben ausgemalt, wie ihr Wiedersehen heute von Statten gehen könnte und wie sie es schaffen würden, ein wenig Zeit zu zweit zu verbringen. Er hatte noch einmal in allen Einzelheiten jede Sekunde durchlebt, die sie miteinander in der dunklen Gasse am Hafen von Tyskebryggen verbracht hatten.

Beschwingten Schrittes verließ er seine Kammer, um zunächst ein kleines Frühstück zu sich zu nehmen. Sein Onkel hatte vom gestrigen Schütting Brot und kalten Braten mitgenommen. Daran tat Johann sich nun gütlich und spülte alles mit einem Becher Milch hinunter.

Sein Großonkel kam hinzu und leistete ihm Gesellschaft.

„Du bist früh wach, Johann."

So gleichmütig wie möglich zuckte Johann mit den Schultern.

„Ich habe schlecht geschlafen. Außerdem gibt es heute wieder viel zu tun."

Gustav nickte.

In diesem Moment klopfte es laut und vernehmlich am Tor und Johann hätte sich beinahe an seinem letzten Schluck Milch verschluckt. Seinen ersten Impuls, alles stehen und liegen zu lassen und zum Tor zu eilen, konnte er nur mit großer Mühe unterdrücken. Stattdessen überließ er es Mathis, das Tor zu öffnen.

Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür öffnete und Mathis tatsächlich Morten zu ihnen brachte. Sofort hatte Johann das Gefühl, der Tag würde ein wenig freundlicher, der Raum ein wenig heller. Für einen kurzen Moment verhakten sich ihre Blicke und Mortens Augen lächelten ihm zu. Doch Morten war ein viel zu guter Schauspieler, als dass ein Dritter ihm etwas angemerkt hätte. Einem Ausbund an Höflichkeit gleich begrüßte er zunächst Gustav, dann Johann in aller Form, so wie es von einem Mann seines Standes erwartet wurde. Und wenn er dabei Johanns Hand einen kleinen Moment länger hielt, als es notwendig gewesen wäre, fiel dies außer Johann niemandem auf.

Gemeinsam gingen sie nach draußen und überwachten das Verladen der Getreidesäcke und der Bierfässer, um diese anschließend von den Arbeitern zu Olavs Anlegestelle transportieren zu lassen. Als sie dem Tross folgten, gingen Johann und Morten nebeneinander. Johann hätte Morten gerne berührt, aber natürlich war dies nicht möglich. Er war sich insbesondere Gustavs Anwesenheit deutlich bewusst. So war er froh, als sie schließlich Olavs Lastkahn erreicht hatten.

Und wieder erwies sich Morten als große Hilfe. Mit Mortens Übersetzung war es ein Einfaches, sich auf das gängige Gewicht zu einigen und die Ware nachzuwiegen. Auch die Nachverhandlungen gestalteten sich zwar anstrengend, aber weit weniger zeitraubend, als dies unter anderen Bedingungen der Fall gewesen wäre. Und so stapelten sich auf den Karren bald Unmengen von Stockfisch, während Getreide und Bier auf Olavs Lastkahn gewandert waren.

Zufrieden verabschiedete sich Johann schließlich von einem sichtlich ebenso zufriedenen Olav und folgte den Karren mit Morten und Gustav zurück zum Kontor.

Es war kurz nach Mittag, als sie dort ankamen, und Johann freute sich über die zügige Erledigung des Handels. Insgeheim malte er sich bereits aus, wie er sich mit Morten zusammen davonstehlen könnte, irgendwohin, wo sie endlich alleine sein konnten. Doch sein Onkel machte ihm schnell einen Strich durch die Rechnung.

„Nun, da die Geschäfte abgeschlossen sind, solltest du veranlassen, dass der Stockfisch so schnell wie möglich, am besten noch heute, auf das Schiff verladen wird. Du solltest außerdem noch heute mit dem Schiffer besprechen, wann ihr wieder in See stechen könnt. So weit im Norden ist der Winter nicht mehr weit. Ihr solltet euch bald auf die Heimfahrt machen, bevor das Wetter umschlägt."

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