Teil I - Kapitel 22

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Die Sonne ging bereits unter, als sie durch das Stadttor nach Bergen zurückkehrten.

Sie hatten noch eine Weile auf Mortens Plateau verbracht, den Ausblick, die Sonne und ihre Zweisamkeit genossen und nicht viel dabei gesprochen. Es war auch nicht notwendig gewesen. Vieles war an diesem Tag gesagt und gezeigt worden, das ein ganz neues Verständnis geschaffen hatte, eines, das offenbar nicht viele Worte brauchte.

Morten war sich anfangs nicht sicher gewesen, ob es eine gute Idee war, Johann all die Stätten seiner Kindheit zu zeigen. Viele Erinnerungen hatten auch nach all der Zeit, die inzwischen vergangen war, einen bitteren Beigeschmack. Außerdem hatte Morten befürchtet, Johann mit seiner Vergangenheit abzuschrecken. Andererseits konnte Morten nicht ändern, wo er herkam und er hatte sich bisher nie dafür geschämt, sondern seinen Stolz daraus gezogen, dass er nicht nur überlebt hatte, sondern sich auch aus eigener Kraft aus diesem Elend befreit hatte. Und dieser letzte Gedanke war es schließlich gewesen, der ihn dazu gebracht hatte, Johanns Wunsch zu erfüllen, in der Hoffnung, dass Johann nicht nur das äußere Elend, sondern auch Mortens innere Kraft sehen würde, die ihn zu dem gemacht hatte, was er heute war.

Zu seiner doch nicht ganz unerheblichen Erleichterung hatte Johann ihn nicht enttäuscht.

Wie sie nun so einträchtig nebeneinander durch Bergens Gassen gingen, hatte er das Gefühl, dass sich wieder etwas zwischen ihnen verändert hatte, auch wenn es ihm schwer fiel, es in Worte zu fassen. Er wusste nur, dass er sich noch niemandem so weit geöffnet hatte, wie Johann an diesem Tag und dass dies einen gewichtigen Unterschied machte. Dies und die Tatsache, dass Johann sein Vertrauen nicht enttäuscht hatte, unterschieden ihn von allen anderen Menschen in Mortens Leben, machten ihn einzigartig und besonders.

Alles in ihm sträubte sich dagegen, diesen Tag zu beenden und so wurden seine Schritte immer langsamer, je näher sie Tyskebryggen kamen, bis er schließlich stehen blieb.

„Ich möchte dich noch nicht zurückbringen."

Mit einem erleichterten Lächeln blieb Johann ebenfalls stehen.

„Und ich möchte noch nicht zurück."

Sie grinsten sich an, verlegen und erleichtert zugleich.

„Also – wohin gehen wir?", fragte Johann.

Morten überlegte kurz.

„Zuerst einmal sollten wir etwas essen. Mir knurrt der Magen."

„Ich habe auch Hunger."

„Gut, dann folge mir."

Morten führte Johann in das nächstgelegene Wirtshaus. Dort fanden sie noch einen kleinen Tisch in einer Ecke, bestellten Fisch und Brot und verdünntes Bier. Das Wirtshaus unterschied sich kaum von der Spelunke, in der sie vor zwei Tagen Johanns erfolgreiche Verhandlungen gefeiert hatten. Es war dämmrig, laut und es roch nach Ausdünstungen verschiedenster Arten. Doch anders als vor zwei Tagen störte sich Morten an diesem Abend daran, insbesondere am Lärm der anderen Gäste, der eine Unterhaltung mit Johann unmöglich machte. Er ertappte sich dabei, wie er schneller aß und seinen Krug in großen Zügen leerte, um dieser Spelunke so schnell wie möglich wieder zu entkommen und war erleichtert, dass auch Johann nicht zu trödeln schien.

Schneller als er zu Anfang angenommen hatte, standen sie so wieder in der kühlen Nachtluft und sahen sich unschlüssig an.

„Ich möchte noch immer nicht zurück", meinte Johann bestimmt.

Morten ging im Geiste ihre Möglichkeiten durch. Er kannte zwar ein paar Orte, an denen sie sicher ungestört wären, aber all diese Orte waren unter freien Himmel und dafür war es inzwischen nachts erheblich zu kalt. Der Kontor der Familie Benecke kam für ihn nicht in Frage, weil er, insbesondere um Johanns willen, nicht in Gefahr laufen wollte, dass Gustav ihr kleines Geheimnis herausfand. Also blieb letztlich nur eine einzige Möglichkeit übrig.

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