6 - Knapp daneben ist auch vorbei

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Woher ich wusste, dass ich nur für wenige Sekunden das Bewusstsein verloren hatte?

Na weil der Heißluftballon noch immer mit bahnbrechender Geschwindigkeit auf die tiefblauen Wassermassen unter mir zubrauste.

Die Panik packte mich und ich rappelte mich wieder auf, krallte mich am Korb fest, als wäre er ein rettender Anker. Aber eigentlich war er – genauso wie ich – so gut wie dem Tode geweiht. Ich sah mich um, nichts. Weit und breit nur Wasser. Eiskaltes, dunkelblaues Meerwasser. In der Ferne sah ich nur noch die Küste und wenn ich mich anstrengte konnte ich auch noch die Berge ausmachen, die ich erst kurz vorher überflogen hatte. Die Berge, hinter denen das Heim war. Dort, wo ich sicher wäre. Aber dort war ich jetzt nicht. Ich stand in dem Korb des Heißluftballons, dessen Funktionstüchtigkeit ganz offensichtlich versagt hatte. Weit und breit nichts und niemand. Nur ich. Nur ich und der Tod, der mich in wenigen Augenblicken mit offenen Armen begrüßen würde.

Erst als das Gefühl wiederkehrte, fiel mir auf, dass es, nachdem ich aus meiner Ohnmacht wieder aufgewacht bin, verschwunden war. Doch jetzt packte es mich, aggressiver, intensiver als zuvor und mir stockte der Atem. Ich hatte keinen Augenblick Zeit, um mich gegen das Monster in mir zu wehren. Denn dann war es auf einmal auch wieder weg. Und urplötzlich befand ich mich nicht mehr im freien Fall.

Die Wassersäule bemerkte ich erst, als ich nach unten sah. Unmengen von Wasser erhoben sich aus den Wassermassen unter mir. Sie vereinigten sich zu einer Einheit, sie schlängelten sich zusammen, entgegen aller Gesetze der Gravitation, in die Höhe. Die Säule aus Wasser reckte sich und streckte sich, bis sie bei mir angekommen war und den defekte Heißluftballon vom Fall abhielt.

Der Geruch von Salzwasser stieg mir in die Nase und ich atmete tief durch. Ich hatte keine Ahnung, was gerade wirklich passierte, warum der Heißluftballon versagt hatte und wie zur Hölle es sein konnte, dass ich gerade von einem Pfeiler aus Wasser getragen wurde. Ich hatte keine Ahnung, in welcher merkwürdigen Traumwelt ich mich gerade befand. Und das einzige, woran ich in dieser absurden Situation denken konnte war, dass man zu Zeiten Goethes das Wort merkwürdig noch wörtlich genommen hat: Würdig, sich etwas zu merken.

Es zischte, es knisterte und auf einmal brannte das Feuer wieder. Urplötzlich füllte sich die Ballonhülle wieder mit heißer Luft und ich trieb langsam nach oben, weg von den Wassermengen, die mein Leben gerettet hatten. Wieso auf einmal das Feuer wieder brannte oder warum es überhaupt aufgehört hatte zu brennen, konnte ich noch immer nicht sagen. Ich ließ mich erschöpft auf den Boden des Korbes sinken.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch, ich versuchte die Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. In letzter Zeit musste ich das ganz schön oft machen. Weil so viel passiert ist. So viel, was ich mir nicht erklären konnte. So viele Fragen und gar keine Antworten. Ich wollte so viel wissen. Und vor allem wollte ich wissen, was das Ungeheuer in mir war. Ich wollte wissen, warum es mich so fertig machte. Und ich wollte wissen, ob es etwas mit den merkwürdigen Vorfällen in letzter Zeit zu tun hatte. Ich hatte Angst. Und es ist wirklich noch nicht oft vorgekommen, dass ich mir das selbst eingestehen musste. Ich war ganz allein. Ich hatte weder Geld, noch Nahrung. Ich war abgehauen. Ich saß darüber hinaus noch in einem Heißluftballon, der vor meinem Fenster aufgetaucht ist und mich fast in den sicheren Tod gebracht hätte. Woher sollte ich wissen, dass er mich wirklich an mein Ziel brachte? Woher sollte ich wissen, dass es nicht einfach eine riesengroße Verarsche war? Ich wusste gar nichts. Und es machte mich fertig. Es zerstörte mich. Nicht so schmerzhaft, nicht so plötzlich wie das Ungeheuer. Nein. Langsamer. Aber dafür hinterließ es tiefere Wunden.

-

Erst als der Ballon langsam absackte, als ob er zum Landen ansetzen würde, stand ich auf. Weit und breit war nichts zu sehen. Vereinzelte Wolken am Himmel, die Sonne schien munter auf das Meer und brachte es dazu, wie viele kleine Edelsteine zu glänzen. Es war fast unnatürlich, wie warm es trotz der kalten Jahreszeit war. Am Horizont konnte ich schon lange kein Land mehr ausmachen. Doch als ich mich in die andere Richtung drehte, entdeckte ich etwas anderes, das sich deutlich vom blauen Wasser abhob.

Ein Schiff.

Es war kein normales Schiff. Das erkannte ich schon von Anfang an. Es durchbrach das Wasser um einiges schneller und darüber hinaus war es einfach riesig. Und mein Ballon steuerte direkt darauf zu.

Mein Herz schlug schneller, immer schneller und schneller.

Je mehr ich mich dem Schiff näherte, desto sprachloser wurde ich. Es war atemberaubend schön. Kein Kreuzfahrtschiff der Welt könnte mit diesem Prachtexemplar mithalten. Niemals.

Es war ein riesengroßes, tiefschwarzes Piratenschiff. Die Segel leuchteten in einem strahlenden Weiß und wölbten sich unter dem starken Wind, der das Schiff antrieb. Die Masten des Schiffes ragten in den Himmel empor wie die stolzen Wolkenkratzer einer großen Stadt. Es war als würde dieses Schiff, in einem Moment der Verzweiflung, in mein Leben schippern und mich vor dem Ertrinken retten.

Und das, was mich wirklich erleichterte, das, was den tonnenschweren Felsen von meinem Herzen rollte, war das, was ich jetzt erblickte. Denn dort, wo in alten Abenteuerfilmen eine Piratenflagge flatterte, wehte hier eine Fahne mit der Aufschrift SoE im Wind.

School of Elements.

Ich war da.

Es war echt.

Mein kleiner Heißluftballon näherte sich Stück für Stück dem Heck des Schiffes. Dort war, zu meiner Belustigung, ein Landeplatz. Ein Landeplatz – ganz offensichtlich für den Heißluftballonverkehr. Aus allerlei Filmen und Büchern erkannte ich das große, weiße, eingekreiste H, das auf das dunkle Holz des Schiffes gepinselt wurde. Nur hier stand das H nicht für „Helikopter", sondern für „Heißluftballon".

Und nicht wenig später setzte mich der Ballon sachte auf genau diesem Landeplatz ab.

Ich war angekommen.

Endlich.


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