Kapitel 24 - Du bist Du

4.5K 314 80
                                    

Das Wasser umspülte meine nackten Füße. Es war kalt und doch warm und der Sand unter meinen Füßen fühlte sich trocken an. Vielleicht lag es am Meer, das so magisch war, wie die Schule selbst. Vielleicht lag es auch daran, dass meine Gabe gerade zusammen mit meinen Emotionen verrücktspielte und das Wasser merkwürdige Dinge machen ließ. Ich wusste es nicht.

Ich wagte endlich zu sprechen, weil ich mir beinahe sicher war, dass ich nicht in Tränen ausbrechen würde, wenn ich den Mund aufmachte.

„Ich...ich verstehe das alles noch nicht ganz, Ms. Lowburgh"

Die Lehrerin schaute auf das Meer hinaus, als ob sie dort etwas sehen würde. Etwas anderes als endloses, blaues Wasser. Doch dann schaute sie auf mich herunter und holte tief Luft.

„Es war auch damals schwer zu verstehen. Für uns alle", antwortete sie schließlich.

„Du musst wissen, dass unser Volk klein ist, Alice. Wenn du irgendwann so alt bist wie ich und so viel erlebt hast wie ich, dann wirst du auch behaupten können, dass du beinahe jeden aus unserer Welt kennst. Denn das tue ich", sie schaute wieder in die Ferne. „Gerade weil wir uns gegenseitig kennen, weil wir ein gemeinsames Schicksal teilen und weil wir gemeinsam ein Ziel verfolgen – die Welt zu einem besseren Ort zu machen – sind wie wir eine riesengroße Familie. Und in einer Familie vertraut man einander. Und in einer Familie ist man loyal. In einer Familie stellt man sich nicht gegeneinander. Deswegen sollte es auch keinen Regelverstoß geben. Aber doch gibt es Leute, die sich gegen ihre Familie, gegen ihre Heimatwelt stellen. Deine Eltern waren zu zweit. So etwas gab es noch nie. Es war schon unüblich, wenn es innerhalb von wenigen Monaten mehr als einen Regelbrecher gab. Aber zwei auf einmal?"

Sie stockte und ich wartete, bis sie weiterredete. Aber sie tat es nicht. Wir liefen wieder ein paar Minuten schweigsam nebeneinander her. Der Sand war weich und kein einziger Stein war in den feinen Sandkörnern zu spüren. Beinahe perfekt.

„Was haben sie getan? Und warum?", ich bekam die Fragen fast nicht heraus. In meinem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet und ich wollte die Antworten gar nicht hören. Ich wollte nicht hören, was für schreckliche Menschen meine Eltern gewesen waren. Noch sind. Aber ich musste es wissen.

Ms. Lowburgh sah mich eindringlich an, als ob sie erwarten würde, dass ich doch noch einen Rückzieher machen würde. Dann redete sie.

„Deine Mutter war meine beste Freundin. Wir haben uns damals in der Universität kennengelernt. Wir waren unzertrennlich. Jedenfalls, bis sie Mike kennengelernt hat. Ich habe monatelang nichts von ihr gehört und auf einmal erzählt sie mir von ihm. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mich nicht gestört hat, dass er aus der anderen Welt kam. Aber es hat mich gestört. Es war so selten, dass Leute sich in einen Menschen aus der anderen Welt verliebt hatten. Doch bei deiner Mutter war es so. Leider war Mike nicht so sauber, wie ich dachte. Wie Evelyn dachte. Kaum hatte sie ihm ihre Gabe gezeigt, das Feuer zu beherrschen, war er fasziniert von unserer Welt. Besonders haben ihm unsere Tierwesen gefallen. Und still und heimlich, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, überredete er seine Frau, unsere Welt zu stürzen. Er hat unsere Tiere geklaut und sie gefoltert..."

Ihre Stimme brach.

„Und manche munkelten, dass er es auch mit seiner Frau getan hatte, um sie zu überreden"

Die Worte stachen und brannten in meinem Herzen und ich sah weg, als eine Träne über ihre Wange rann.

„Und manchmal glaube ich auch daran. Evelyn würde niemals... sie würde niemals einfach..."

Sie hörte auf zu erzählen und ich gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Weil ich sie verstand. Weil sie die ganze Sache mehr mitnahm als mich. Weil sie dabei gewesen ist. Weil sie sich gegen die Frau stellen musste, die sie als ihre beste Freundin bezeichnet hatte.

School of ElementsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt