Kapitel 28 - Flug in den Himmel

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Im Gemeinschaftsgarten war es selten so still gewesen wie jetzt. Sonst plapperten alle Schüler munter drauf los, tauschten sich über die neuesten Ereignisse und blöden Hausaufgaben aus. Aber jetzt war es beunruhigend still, seitdem Ms. Lowburgh ein kleines Podest betreten hatte und mit gläsernen Augen auf die Schüler herunterblickte. Obwohl sie niemanden um Ruhe gebeten hatte, war es auf einmal mucksmäuschenstill. Nur das nervöse Scharren von Füßen auf dem glatten Marmor hin und wieder zu hören.

Was war der Grund, warum wir alle hier standen? Warum die Schüler und Lehrer aus ihrem Unterricht geholt wurden? Was war so wichtig, dass es nicht bis zum Abendessen warten konnte? Was ist passiert?

Ms. Lowburghs Hände zitterten, als sie sie hob und auf das Sprechpult legte. Sie krallte sich fest daran, als würde es ihr helfen, nicht den Halt zu verlieren. Nicht die Fassung zu verlieren, bei dem, was sie uns zu sagen hatte.

„Schülerinnen und Schüler", begann sie. „Der School of Elements"

Ihre Stimme war noch leiser als sonst. Sie war leise und traurig und gebrochen. Sie war enttäuscht.

„Ich habe euch hier aus einem bestimmten Grund zusammenkommen lassen", sie machte eine Pause und schloss die Augen kurz. „Und ich wünschte, dieses Treffen hätte nie nötig sein müssen"

Jetzt flüsterte sie nur noch, doch ihre Stimme hallte unglaublich laut in meinem Kopf wider. Emmet neben mir trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und streckte sich, um Ms. Lowburgh besser sehen zu können. Als ob er, ein Leuchtturm von Mensch, sie nicht sehen konnte.

Ich schluckte.

Was? Was war passiert?

„Wir mussten leider Abschied von einem Menschen nehmen, das uns seit Jahren hier an unserer Schule beehrt. Ms. Sylva hat den Tod gefunden"

Die Welle von plötzlichen Gesprächsfetzen brach über mich herein, wie ein Sturm aus Worten und Sätzen. Aber ich konnte nichts sagen, ich konnte nicht zuhören. Ich konnte Emmet nicht zuhören und Mona auch nicht. Ich bekam nicht mit, worüber sie flüsterten. Ich stand nur da, starrte ins Leere und verjagte die Bilder aus meinem Kopf. Doch es ging nicht. Mein Atem ging nur noch flach und die Leiche, die tief unter mir gelegen hatte am vorigen Tag, tauchte immer wieder vor meinem Auge auf. Und ich hatte nichts gemacht. Nichts hatte ich getan, ich hatte es niemandem gesagt. Ich hatte mich in meinem Zimmer verkrochen, hatte nichts gesagt. Aus Angst, ich könnte verdächtigt werden.

Es war eine Lehrerin. Eine unschuldige Lehrerin. Es war Emmets Fluglehrerin. Und ich hatte nichts gesagt.

„RUHE!", Ms. Lowburghs Stimme war ungewohnt schwach. „Ich bedaure den Tod meiner Kollegin sehr. Und es tut mir sehr weh, euch diese schreckliche Nachricht überbringen zu müssen"

Stille.

Ihre Augen schienen jeden Anwesenden anzusehen, durch ihn hindurchzusehen, vielleicht sogar in ihn hinein. Ich schluckte.

Ms. Lowburghs Mine wurde weicher und man sah ihr den Schmerz deutlich an.

„Es wird eine Trauerfeier geben. Niemand ist dazu verpflichtet, den Unterricht zu besuchen. Es wird in einer solchen schweren Zeit von niemandem erwartet, eine Leistung zu vollbringen. Ich und mein Kollegium, wir werden jederzeit für euch da sein, falls ihr über irgendetwas reden möchtet. Ich möchte euch außerdem darum bitten, nicht zu versuchen, allein mit diesem Todesfall umzugehen. Ich will, dass ihr miteinander redet und diese Nachricht zusammen verarbeitet. Niemand soll allein sein. Niemand braucht es mit sich selbst ausmachen"

Sie sah jetzt mich an. Sie sah mich direkt an.

„Niemand ist hier auf sich allein gestellt, okay?", sagte sie und ich wusste, dass sie es zu mir sagte.

Und ich nickte.

-

Ich atmete tief durch.

Jetzt, jetzt wo ich wieder hier war, war der Wald nicht so schön, er war nicht so magisch und nicht so märchenhaft. Jetzt, wo ich in dem Wissen hier war, dass eine Lehrerin umgekommen war, war gar nichts mehr schön.

„Hier?", flüsterte Mona leise, als wir am Abgrund angekommen waren.

Ich nickte und hätte mich fast übergeben. Ich traute mich nicht, nach unten zu sehen. Wahrscheinlich haben sie die Leiche weggeschafft. Wahrscheinlich waren alle Hinweise, dass dort jemals ein toter Mensch gelegen hatte, vom unruhigen Meer weggespült. Es war heute aufbrausend und laut. Als wüsste es von der Neuigkeit. Oder es war einfach meine Gabe, die auf ihre ganz eigene Art mit der Nachricht umging und das Salzwasser rund um mich herum verrücktspielen ließ.

Emmet stand am Rand des Waldes und trat nicht näher. Seine Augen waren rot unterlaufen und hin und wieder kullerte eine kleine Träne über seine Wangen. Wir hatten ihm angeboten, mit ihm in der Schule zu bleiben, aber er wollte es unbedingt sehen. Er wollte unbedingt sehen, wo sie umgekommen war.

„Meinst du es war...Suizid?", fragte Mona und sah mich an. Ich zuckte mit den Schultern.

Emmet schluchzte und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Hey", flüsterte ich leise trat näher zu ihm. Er war einfach riesig. Ich wusste nicht wirklich, was ich machen oder sagen sollte. Also legte ich meine Hand auf seinen Arm und strich beruhigend darüber.

Er zuckte kurz zusammen, dann aber löste er die Hände von seinem Gesicht und zog mich in eine Umarmung. Er hielt mich fest und sein Oberkörper bebte manchmal, wenn er erneut schluchzte. Er hielt sich an mir fest, als würde er sonst ertrinken.

Ich strich ihm über den Rücken, da ich nicht wirklich wusste, was ich sonst machen sollte.

„Sie hat...", sagte er leise. „Sie hat gesagt, dass...", aber seine Worte erstickten in einem weiterem Schluchzer.

„Was hat sie gesagt?", fragte ich sanft, doch er schüttelte nur den Kopf.

„Sie hat gesagt...dass ich ein guter...Fli...Flieger bin", sagte er langsam und seine Finger krallten sich in meine Bluse.

Seine Brust bebte und nach einer schieren Unendlichkeit löste er sich wieder von mir, er sah noch schlimmer aus als zuvor.

Als ich mich umdrehte fanden wir Mona vor, wie sie am Rand der Klippe kniete und merkwürdige Gesten ausführte. Sie ließ nach und nach ein wunderschönes Gänseblümchen nach dem anderen aus dem Boden sprießen. Wir liefen schnell zu ihr.

„Das hat sie doch verdient, oder?", fragte sie traurig und sah auf das Werk unter ihr. Abertausende von Gänseblümchen formten ein Kreuz. „Sieht vielleicht ein bisschen doof aus, aber mehr als Gänseblümchen kann ich..."

„Danke, Mona", unterbrach Emmet sie und nahm auch sie in den Arm.

Wir saßen noch eine ganze Weile vor dem Blumenkreuz und beobachteten die Sonne, die langsam hinter dem Meer verschwand und uns ein besseres Morgen versprach.

***

Ich widme dieses Kapitel einem Lehrer meiner Schule, der diesen Sommer tödlich verunglückt ist.

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