Die Winterferien wurden von einem heftigen Schneesturm begrüßt. Die meisten Familien würden sich über den Schnee freuen, einen Schneemann bauen und dann ein weißes Weihnachten genießen können. Ich freute mich nicht. Für mich und die anderen Kinder im Heim bedeutete jede Schneeflocke, die vom Himmel fiel, mehr Kälte und somit auch mehr Frieren. Und auf ein Weihnachtsfest konnten wir uns erst recht nicht freuen, so etwas gab es bei Tracy nicht. Nicht, dass ich besonders gläubig gewesen wäre. Die Erziehung, die ich bei Tracy genossen habe, basierte darauf, dass ich angeschrien wurde und dann bestraft wurde, wenn ich es ihr gleichtat. Und das blieb bis heute so. Da war wenig Zeit für Gott und Jesus.
Ich verbrachte also den Großteil der Feiertage in meinem Zimmer, eingerollt in meine Decke und versuchte, nicht zu Frieren. Mir blieb wieder viel Zeit zum Nachdenken. Also eigentlich wie immer, weil ich ja gut auf Konversationen verzichten konnte. Ich hatte aber immer weniger über die Vorfälle der letzten Tage nachgedacht und je weiter die Begebenheiten in der Vergangenheit langen, umso weniger dachte ich daran. Das komische Etwas kam nur noch selten. Und wenn es dann einmal da war, dann konnte ich es in Schach halten. Aber in den letzten Tagen hatte ich es schon fast vergessen. Und es war auch gut so.
Ich sah mich in meinem kleinen Zimmer um, entdeckte eine weitere undichte Stelle des Daches und stellte meinen Zahnputzbecher darunter. Ich wusste ganz genau, warum die Lieblinge von Tracy die Zimmer im ersten Stock hatten. Immerhin wollte ja niemand, dass es ihnen mitten in der Nacht auf ihre süßen, kleinen Schädel tröpfelte.
Ich stand auf, legte mir die Decke um die Schultern und lief auf und ab. Jedenfalls machte ich zwei Schritte und kehrte dann wieder um. Größer war mein Zimmer nicht. Ich sah aus dem kleinen Fenster. Es war undicht und kalte Luft strömte, auch wenn es geschlossen war, unaufhaltsam in mein Zimmer. Es schien aufgehört haben, zu schneien und ein paar Sonnenstrahlen ließen sich durch die dunklen Wolken blicken. Meine Mundwinkel zuckten. Es kam nicht oft vor, dass in der düsteren Kleinstadt die Sonne schien. Nicht mal im Sommer.
Ich öffnete das Fenster und ignorierte den kalten Wind, der mir die Haare aus dem Gesicht strich. Die dicke Schneedecke glitzerte und war vollkommen unberührt. Es sah wunderschön aus. Auch wenn ich die beißende Kälte hasste, der Winter war wirklich eine atemberaubend schöne Jahreszeit. Ich wickelte die dünne Decke enger um meine Schultern, schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft war zwar stechend kalt in meiner Lunge, dafür aber auch sehr besänftigend. Ich konnte mich seit Ewigkeiten wieder für einen kleinen Moment entspannen, an nichts denken und genoss es.
Jedenfalls, bis etwas Spitzes meine Stirn traf.
Ich fluchte leise und öffnete die Augen.
Vor mir auf dem abgetretenen, knarrenden Parkettboden lag ein kleiner Papierflieger. Ich sah aus dem Fenster, um den Absender zu enttarnen, der mir, so lustig wie er war, ein Flugzeug gegen die Stirn gejagt hatte. Doch der Hof war menschenleer. Sogar der Schnee zeigte noch immer keine Fußspuren, was ja schon etwas merkwürdig war.
Also wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem gefalteten Stückchen Papier zu meinen Füßen zu und begutachtete es. Derjenige, der es gefaltet hatte, musste sehr präzise zielen können. Immerhin war mein Fenster nicht sonderlich groß und darüber hinaus auch noch im dritten Stock. Die Falttechnik war bestimmt auch äußerst raffiniert, wenn er so hoch fliegen konnte, ohne vorher abzustürzen. Doch er war mit der guten, alten, allseits bekannten Technik gefaltet und unterschied sich nicht von denen, die ich früher als kleines immer gebastelt hatte. Lediglich das cremefarbene Papier war um einiges stärker, was auf jemand wohlhabenderes hinwies, als ich es war. Der Flieger war süß, er erinnerte mich an meine Kindheit, die zwar nicht schön, aber immer noch besser als die Gegenwart gewesen ist.
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School of Elements
FantasíaAlice ist ein Waisenkind und hat ziemlich niedrige Erwartungen an ihr Leben. Doch an ihrem sechzehnten Geburtstag geschehen merkwürdige Dinge und bald wird ihr auch klar, warum: Sie hat eine besondere Gabe. Eine Gabe, die es ihr ermöglicht, ein Elem...