1. Kapitel - Charlie

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Der Traum ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht so fest in unserer Haut eingeschlossen sind, wie es scheint - Christian Friedrich Hebbel

Charlie saß in ihrem Auto und umklammerte ihr Lenkrad. Und das seit nun schon zwanzig Minuten. Heute war ihr erster Schultag nachdem sie mehrere Wochen im Krankenhaus war.

Ja im Krankenhaus. Seit ihrer Geburt leidete Charlie an einem Herzfehler, der bis jetzt mit Medikamenten behandelt wurde. Bis jetzt. Die Medikamente schlugen bei ihr nicht mehr an und die Ärzte hatten ihr gesagt, dass sie dringend eine Herztransplantation braucht, da ihr eigenes Herz nicht mehr lange durchhalten wird.

Sie war seit einigen Tagen wieder zu Hause und hatte beschlossen wieder zur Schule zu gehen. Wenn sie es wirklich nicht mehr lange machte, wollte sie wenigstens mit einem Schulabschluss sterben - falls sie es bis dahin noch schaffte.

Die Ärzte hatten ihr einen Pieper mitgegeben, da sie nun auf der Transplantationsliste ganz oben stand und sie so erfahren würde, ob sie ein passendes Spenderorgan gefunden hatten.

Der Pieper lag neben Charlie im Auto, er erinnerte sie jedes Mal daran, dass sie anders war als die anderen. Sie war kein normales Mädchen, dass in den Pausen mit ihren Freundinnen zu Mittag aß, sie war kein Mitglied in einem Club und sie war schon gar nicht so wie sie. Anna Montgomery.

Charlie fasste endlich ihren Mut zusammen und verließ das Auto, sie schulterte ihre Tasche und ging ins Schulgebäude. Wie sie vermutet hatte, beachtete sie niemand. Ignoriert zu werden ist immerhin besser, als das alle über einen redeten. Davor hatte Charlie am meisten Angst. Das man über sie sprach. Von dem kranken Mädchen. Denn sie wollte weder Mitleid, noch sonst was. Sie wollte in Ruhe gelassen werden.

Naja, eigentlich stimmte das nicht ganz. Sie wollte nicht wirklich in Ruhe gelassen werden. Sie wollte dazugehören. Sie wollte genauso eines dieser Mädchen sein, die jeder mochte und gleichzeitig jeder beneidete. Ein Mädchen, der man einem Platz beim Mittagessen freihielt, die zu coolen Partys eingeladen wurde und die von attraktiven Jungs beachtet wurde.

Aber so war es nun mal nicht. Charlie gehörte nicht zu den angesagten Leuten dieser Schule. Sie war eine Außenseiterin. Durch ihre Krankheit war sie viele Wochen im Jahr zur Behandlung im Krankenhaus und konnte so nicht wirklich Freunde finden. Sie war ohnehin recht schüchtern, was die Sache noch verkomplizierte.

Im Schulflur wurde es allmählich voller. Charlie stand vor ihrem Spint und beobachtete die Masse. Nerds, Punker, Emos, Theaterdarsteller, Musiker, Künstler, Sportler und die It-Girls. Und da war sie. Anna.

Anna ging in die selbe Jahrgangsstufe wie Charlie. Nur war sie das reinste Gegenteil von ihr. Anna Montgomery war schön. Sehr schön um genauer zu sein. Ihre blonden Haare fielen ihr leicht auf die Schulter und ihre blauen Augen hatten ein natürliches Strahlen. Wie immer wurde sie von ihrer Mädchenclique umzingelt. Cheerleadern. Und Anna ist ihr Captain.

Ihr denkt jetzt bestimmt, dass sie eine typische Highschool-Diva ist, aber das ist sie nicht. Sie hatte nicht mal diesen Ruf. Anna schaffte es, trotz ihrer Beliebtheit auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Sie war nett und freundlich, hilfsbereit und sehr herzlich. Deshalb mochten sie auch alle. Charlie eingeschlossen.

Charlie hatte schon immer davon geträumt ein Teil von Annas Clique zu sein. Und eine Cheerleaderin. Ja, das war Charlies Wunsch, der aber nicht wahr werden konnte. Die Ärzte hatten ihr damals von Leistungssport abgeraten. Also musste Charlie ihren Traum verwerfen. Zumindest tagsüber. Nachts konnte sie immerhin noch davon träumen, aber mehr blieb ihr von ihrem Traum auch nicht übrig.

Die Schüler verschwanden in ihren Klassenräumen und auch Charlie machte sich auf den Weg. Sie hatte jetzt Englisch. Als sie in die Klasse kam, war es bereits recht voll und ihre Lehrerin, Mrs. Miller,  war bereits da und wischte die Tafel. Charlie ging zum Pult. "Mrs.Miller."

"Charlotte, schön dass du wieder hier bist." Ihre Lehrerein lächelte sie an. Mrs. Miller war noch recht jung, in den Dreißigern vielleicht und sehr nett und herzlich. "Setzt dich doch, dein Platz ist immer noch frei."

Ja, ihr Platz in der ersten Reihe, direkt am Fenster. Charlie hatte an sich schon immer zu den Strebern gehört, aber mit der Zeit fiel es ihr schwer mitzukommen und den verpassten Stoff nachzuholen. Deswegen war sie inzwischen eher eine durchschnittliche Schülerin. Aber die Lehrer mochten sie trotzdem.

Charlie setzte sich auf ihren Platz und legte ihre Sachen vor sich auf den Tisch. Als sie aufblickte kam gerade James durch die Tür. James war Stürmer in der Fußballmannschaft und Jahrgangssprecher. Sie kannte ihn schon seit der Grundschule, hatte aber nie wirklich etwas mit ihm zu tun. Denn auch James gehörte zu der angesagten Clique der Schule. Und war das nicht genug, war er auch noch der Freund von Anna. Anna und James waren seit einigen Monaten zusammen und das Traumpaar der Schule. Ein weiterer Grund, warum Charlie Anna beneidete.

Charlie war schon seit damals in James verknallt. Liebe konnte man es nicht nennen, schließlich kannte sie ihn kaum, aber sie schwärmte für ihn. Wie ungefähr hundert weitere Mädchen. Immerhin passte sich Charlie da dem Trend an und gehörte dazu.

James lief zu seinem Platz in der letzten Reihe und hielt davor noch bei Anna um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Charlie seufzte und der Unterricht begann.

Nach ihrem ersten Schultag sollte Charlie sich beim Rektor melden wegen irgendwelchen Unterlagen. Das war auch der Grund warum sie das Schulgebäude erst so spät verließ. Auf dem Sportplatz trainierten inzwischen schon die Fußballmannschaft und die Cheerleader. Charlie war hin und her gerissen ob sie sich das Training ansehen sollte. Vor allem weil sie nicht wusste, wegen was oder eher wegen wem sie zusieht. Sie liebte es Cheerleadertänze zu sehen und sie hatte auch nichts gegen Fußball, aber eigentlich wollte sie nur wegen James zu sehen. Und das kam ihr falsch vor. Er war schließlich mit Anna zusammen. Also tabu für sie.

Charlie blickte noch einmal zurück und lief dann zu ihrem Auto. Sie startet den Motor und machte sich auf den Weg nach Hause.

Zu Hause angekommen nahm sie den Duft von Brownies war. Charlie ging in die Küche und entdeckte ihre Mutter vor dem Herd. "Hi Mum, bin wieder da." Ihre Mutter drehte sich um und lächelte sie an. "Hallo mein Schatz. Wie war die Schule?" "Ganz in Ordnung, ich hänge nur etwas hinterher. Aber das wird schon." Ihr Mutter nickte. Eine Sache liebte Charlie an ihrer Mutter besonders, denn obwohl ihre älteste Tochter krank war, behandelte sie sie wie ein ganz normales Mädchen. So wurde Charlie wenigstens nicht alle fünf Minuten daran erinnert, dass sie bald sterben könnte.

"Sag mal, hast du schon was von den Ärzten gehört?" Ihre Mutter deutete auf den Pieper den Charlie in ihrer Hand hielt. "Nein noch nicht, aber ich denke, dass dauert auch noch." Falls es überhaupt passieren wird. Charlie hatte Blutgruppe AB negativ, die seltenste Blutgruppe der Welt. Und wie wahrscheinlich war es schon, dass sich in den nächsten Monaten ein passender Spender für sie finden lässt. Richtig, nicht besonders hoch.

Charlie ging die Treppe nach oben und kam an dem Zimmer ihrer kleinen Schwester vorbei. Lilly war gerade 15 geworden und durchlebte eine Art 'Emo-Phase'. Sie hatte von Natur aus dunkle Haare, hat sie sich aber dennoch schwarz gefärbt. Sie trug auch allgemein fast nur noch schwarze Sachen, ihre Klamotten und ihre Schminke. Alles schwarz. Charlie konnte damit rein gar nichts anfangen. Sie mochte ihre Schwester immer sehr und sie haben sich auch gut verstanden, aber seit einigen Monaten hatte sich das geändert. Lilly war so richtig in der Pubertät und kaum auszuhalten. Das klingt vielleicht jetzt gemein, aber es stimmte. Sie wurde sehr schnell böse, verstand keinen Spaß mehr und war immer so launisch.

Kopfschüttelnd ging Charlie in ihr Zimmer, stellte ihre Tasche ab und legte sich aufs Bett. Von unten drangen Stimmen zu ihr hoch. Ihr Vater war gerade nach Hause gekommen und unterhielt sich mit ihrer Mutter. Die beiden verstanden sich nach all den Jahren immer noch super und Charlie hoffte, dass das auch in Zukunft so bleiben würde.

Lächelnd drehte sie sich zur Seite und schloss ihre Augen. Sie schlief ein und träumte von einer Zukunft, die sie möglicherweise nie haben wird.

Denn Charlie wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, was der nächste Tag für sie bereit hielt...

Wenn Träume fliegen lernenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt