11. Kapitel - Charlie

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Der Mensch wurzelt im Traum, wächst in die Wirklichkeit, verästelt sich in der Erinnerung. - Elazar  Benyoetz

Charlie konnte es kaum glauben. Noch vor ein paar Stunden hätte sie es nicht für möglich gehalten, dass sie jemals mit Anna in einem Bett liegen würde. Geschweige denn sich gegenseitig von ihren größten Wünschen und Ängsten erzählen. Aber genau das taten sie gerade.

Charlie drehte sich zu Anna um, die die Decke anstarrte. „Ich weiß, wie dein Leben in der Schule aussieht, aber wie ist es so bei dir zu Hause? Hast du Geschwister?“

Anna schaute zu ihr rüber. In ihren Augen konnte Charlie Trauer und Unsicherheit lesen.

„Nein ich habe keine Geschwister. Ich lebe zusammen mit meiner Mum in einem kleinen Appartement in der Stadtmitte.“

„Wirklich? Ich habe immer angenommen, du wohnst in einem riesigen Haus mit Garten oder so.“ Charlie spielte verlegen mit ihren Haaren. Doch zu ihrer Überraschung fing Anna an zu lachen.

„Nein, wohl eher das genaue Gegenteil. Meine Mutter hat zwei Jobs um die Miete bezahlen zu können. Seit ich alt genug war musste auch ich arbeiten, denn alles was ich haben wollte, musste ich mir auch selbst bezahlen, da sie es nicht konnte. So kam es, dass ich seit fast vier Jahren in Molly's Secondhandshop arbeite.“

Charlie zog verblüfft eine Augenbraue hoch. „Du und Secondhand? Versteh mich nicht falsch, aber du scheinst mir nicht der Typ dafür zu sein.“

„Ich weiß, das denken die meisten. Aber ich kaufe da fast nur ein und motze die Sachen dann ein wenig auf oder nähe sie um.“

Mühsam setzte sich Charlie in ihrem Bett auf. „Du kannst nähen? Ich wollte auch schon immer nähen können.“ Anna lächelte. „Ja, Molly hat es mir beigebracht. Wenn du magst, kann ich dir zeigen wie es geht.“ Anna drehte ihren Kopf in Charlies Richtung. „Gerne.“ Ein Lädcheln trat auf Charlies Gesicht.

„Und was machst du so in deiner Freizeit, abgesehen von den Tagen im Krankenhaus?“ Anna schaute sie neugierig an. Das war eine gute Frage. Charlie tat eigentlich nichts spannendes. Zumindest nichts was in Annas Augen auch nur ansatzweise interessant sein könnte.

„Nichts besonderes.“ Annas Augenbraue schob sich nach oben. „Wie nichts besonderes? Du stehst auf, isst was und verziehst dich wieder ins Bett oder was?“

„Nein, das nicht. Aber ich mache nichts interessantes.“

Anna seufzte. „Nicht schon wieder. Ich habe dir doch schon gesagt, dass man selbst entscheidet, wer man sein möchte. Und du selbst entscheidest, ob dein Hobby interessant ist oder nicht. Also was machst du so?“

In Annas Augen war reine Interesse zu lesen. Charlie überlegte kurz. „Um mich zu entspannen gehe ich gerne schwimmen, da ich sonst keinen Sport machen durfte. Aber am allerliebsten schreibe ich Geschichten.“

Anna schaute verblüfft. Hätte Charlie doch bloß nichts gesagt.

„Du schreibst Geschichten? Über was so?“ Okay, offensichtlich fand sie es bis jetzt nicht peinlich oder langweilig. Das war doch schon mal was. „Über alles mögliche. Ich habe kein bestimmtes Thema.“

„Darf ich irgendwann mal eine lesen?“ Anna lächelte sie an. „Im Ernst? Du willst etwas von mir lesen?“ Charlie war noch nicht so ganz überzeugt, ob Anna das wirklich wollte, oder ob sie einfach nur nett sein wollte. „Ja, wieso denn nicht? Immerhin kann ich nun nicht mehr cheerleaden, also brauch ich ein neues Hobby. Und Lesen finde ich sehr entspannend.“

„Wenn du wirklich willst, kannst du gerne mal etwas von mir lesen. Aber bis jetzt ist nichts wirklich fertig. Ich fang einfach zu viel gleichzeitig an.“

Wenn Träume fliegen lernenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt