Unsere Träume sind das, was uns am meisten ähnelt. - Victor Hugo
Der Arzt hatte ihr zwar gesagt, dass sie sich ausruhen sollte, aber an schlafen war absolut nicht zu denken, wenn man währenddessen von einer angeblich toten Anna Montgomery beobachtet wurde.
"Was ist passiert?" Annas Augen trafen auf ihre. "Was meinst du?" "Du sagtest, du hattest einen Autounfall. Was genau ist passiert, dass du glaubst du seist tot?" Vielleicht war die Frage falsch gewesen oder einfach zu privat, aber Charlie musste endlich wissen, was hier vor sich ging. Annas Blick wurde ausdruckslos.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Du kannst doch froh sein, dass ich den Unfall hatte, nun hast du ja deine perfekte Spenderin gefunden." Sie zitierte den Arzt von vorhin. Charlie schaute auf ihre Hände.
Wie schlimm muss es für sie sein, nach einem Unfall in einem Krankenhaus aufzuwachen und von niemanden gesehen zu werden. Und dann auch noch zu erfahren, dass man gestorben ist und sein Herz nun in der Brust einer anderen schlägt. Klar war sie distanziert und wütend. Und gleichzeitig unheimlich verängstigt.
"Es tut mir Leid." Charlie sah zu Anna. Sie hatte sich von ihr abgeneigt und starrte aus dem Fenster. Charlie war sich nicht sicher, ob Anna sie überhaupt gehört hatte, denn sie reagierte in keiner Weise auf Charlies Aussage.
"Hör zu, ich will und brauche deine Mitleid und deine Entschuldigung nicht. Ich wollte noch nie von anderen bemitleidet werden und das wird sich jetzt nicht ändern, nur weil ich.. weil ich tot bin."
"Aber ich.." Charlie wollte gerade widersprechen, verstummte aber schlagartig. Anna hatte Recht. "Man sieht dir an, dass du dich unwohl fühlst und Mitleid mit mir hast. Glaub mir, man kann deine Gefühle ablesen als stünden sie dir auf der Stirn geschrieben." Annas Aussagen trafen zu hundert Prozent mit Charlies Gefühlslage überein.
Wie konnte man auch kein Mitleid mit Anna haben? Sie ist bei einem Autounfall gestorben, über den Charlie noch nichts genaueres weiß, dabei ist sie gerade mal 17 Jahre alt und verabschieden konnte sie sich auch von niemanden. Noch dazu erwacht sie nach ihrem Tod wieder und stellt fest, dass nun jemand anderes mit ihrem Herzen weiterlebt.
Und dieser jemand war Charlie. Charlie versuchte sich keine Schuldgefühle einzureden, schließlich konnte sie nichts dafür, dass Anna einen Unfall hatte bei dem sie gestorben ist. Aber es war verdammt schwer, denn man merkte, dass Anna ihr sehr wohl die Schuld an der Situation gab.
"Was ist eigentlich mit dir?" Charlie schaute auf, Anna hatte sich ihr zugewandt und die Arme vor der Brust verschränkt. "Was meinst du?" Charlie konnte Annas Gedankengang nicht folgen. Anna blickte sich demonstrativ im Krankenzimmer um. "Achso, das meinst du." War ja klar, dass Anna irgendwann danach fragen würde.
"Ich wurde mit einem Herzfehler geboren und verbringe seit dem sehr viel Zeit hier. Als die Medikamente nicht mehr geholfen haben, war klar, dass ich eine Transplantation brauche." Charlie schaute wieder auf ihre Hände, die verschränkt auf der Bettdecke lagen.
"Aha. Deshalb kennt dich auch kaum jemand in der Schule oder man denkt, du seist neu." Das war zwar die Wahrheit, die Charlie versuchte zu verdrängen, aber es war dennoch hart sie aus Annas Mund zu hören.
"Ja, muss cool sein, wenn es anders ist und jeder einen kennt." In Charlies Stimme lag ein Hauch von Sarkasmus. "Klingt aber nicht so, als würdest du das ebenfalls wollen." Anna hatte eine Augenbraue hochgezogen.
"Eigentlich war es schon immer das, was ich am meisten wollte. Beachtet zu werden." Jetzt waren beide Augenbrauen von Anna hochgezogen. "Tatsächlich? Und warum hast du dann nie versucht etwas an deiner Situation zu ändern?" Charlie war erstaunt, denn Anna klang wirklich interessiert.
"Was hätte ich denn deiner Meinung nach ändern sollen?" "Naja, du hättest dich den Cheerleadern oder der Theater-AG anschließen können, dann würde man dich kennen" "Leichter gesagt, als getan. Ich durfte wegen meiner Krankheit keinen Leistungssport betreiben und da ich so oft nicht in der Schule war, hätte mich die Theater-AG wohl kaum genommen."
"Wie kommt es eigentlich, dass du nicht meilenweit im Unterricht hinterher hängst, wenn du so oft nicht in der Schule bist?" Jetzt war es Charlie die eine Augenbraue hochzog. "Ich musste den Stoff natürlich im Krankenhaus nachholen. Also wie du siehst, konnte ich da nicht so einfach mal was ändern."
"Also wenn du wirklich wollen würdest, dass Leute dich kennen und beachten, hätte man da einiges machen können. Wenn man einen Traum hat, sollte man an ihm festhalten und versuchen ihn wahr werden zu lassen."
"Das ist wohl der Unterschied zwischen dir und mir. Du holst dir, was du haben willst." "Bei dir klingt das so, als sei das etwas falsches oder verwerfliches. Ist ja nicht so, als sei ich dabei rücksichtslos oder so." Charlie seufzte.
"Nein, das nicht, aber nicht jeder hat das nötige Selbstbewusstsein so zu handeln oder sich überhaupt einzugestehen, was man haben möchte." Sie betrachtete wieder ihre Hände. Anna schaute sie an. "Selbstbewusstsein ist eine Frage der persönlichen Einstellung."
Das bestätigte mal wieder, warum Charlie Anna immer so beneidet hatte. Ihre Ausstrahlung und ihr Selbstbewusstsein faszinierten sie. "Was ist, warum schaust du mich so seltsam an?" Anna unterdrückte ein Lachen. "Ich weiß es nicht, ich finde dich irgendwie beneidenswert." Charlie zuckte mit den Schultern. Anna lachte laut los. "Was, wieso das denn auf einmal?"
"Du.. naja ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber du hast das, was ich immer haben wollte." Annas Lachen verstummte und sie zog wie so oft eine Augenbraue hoch. Charlie strich sich behutsam über ihr, oder besser Annas Herz. Anna folgte mit ihrem Blick Charlies Bewegung.
"Dir ist aber klar, dass du zwar jetzt mein Herz hast, aber das noch lange nicht heißt, dass du meinen Platz einnehmen wirst, oder?" Anna sah Charlie abschätzend an. Ihr Blick war eindeutig, sie traute es Charlie nicht mal zu, ihren Platz einzunehmen. Was verständlich war, denn Charlie traute es sich ja selbst nicht zu.
"Das weiß ich, aber nun habe ich die Möglichkeit alles zu ändern und endlich jemand sein zu können." Charlie stellte sich jetzt schon vor, wie ihr zukünftiges Leben sein würde.
"Man kann nicht niemand sein, man ist immer jemand und sei es wie in deinem Fall die stille Außenseiterin. Du entscheidest selbst, wer du sein möchtest, das machen nicht andere für dich." Als Anna Montgomery konnte man das durchaus sagen, aber nicht als Charlotte Rhodes. Sie hatte nie die Chance jemand anderes zu sein. Bis jetzt.
Die Mädchen starrten sich gegenseitig an, ohne dabei etwas zu sagen.
Charlie schüttelte den Kopf. " Was machst du eigentlich noch hier, ich kann mir nicht vorstellen, dass du hier gerne deine Zeit verbringst und mich mit deinen Weisheiten belehrst?" Anna schnaubte. "Da hast du verdammt recht, aber ich kann mich leider nicht weit von dir entfernen."
"Was, wieso das denn?" Charlie legte ihre Stirn in Falten und warf Anna einen verwirrten Blick zu. "Anscheinend dient mir MEIN Herz als eine Art Batterie. Ich muss in seiner Nähe bleiben, sonst ende ich doch noch im Jenseits. Und da du Glückspilz mein Herz nun besitzt, klebe ich wohl an dir fest."
"Aha." War alles was Charlie dazu sagen konnte. "Ja, ich bin davon auch nicht so begeistert, schließlich muss ich das Zimmer mit dem Mädchen teilen, dass meint mein Herz stehlen zu müssen."
"Du könntest auch einfach gehen und einsehen, dass du gestorben bist. So würdest du uns beiden einen Gefallen tun." Charlie lächelte Anna zuckersüß an.
"Keine Chance, Schätzchen. Du wirst wohl noch eine ganze Weile mit mir auskommen müssen. Also auf gute Zusammenarbeit."
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Wenn Träume fliegen lernen
Teen FictionEine Geschichte über zwei völlig verschiedene Mädchen, deren Schicksal sie auf ungewollte Weise miteinander verbindet. Anna ist das beliebteste Mädchen der Schule, Cheerleader-Kapitänin und mit dem Jungen zusammen, den sie über alles liebt. Ihr Leb...