10. Kapitel - Anna

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Träume sind Brücken zwischen Himmel und Erde. - Andreas Tenzer

"Glaubst du eigentlich, du wirst damit klar kommen?" Die Mädchen haben sich fast eine Stunde angeschwiegen. Nun ergreift Anna das Wort. "Was meinst du?" Charlie sieht von ihrem Buch auf.

Wie sie in einer solchen Situation ein Buch lesen konnte war Anna ein Rätsel. Und es machte sie unheimlich wütend.  Wie konnte sie sich in ein Buch vertiefen, während Anna vor ihr stand. Anna, dessen Herz Charlie einfach gestohlen hatte. 

"Ich meine, ob du damit klar kommen wirst, dass ich sterben musste damit du ein beschissenes neues Herz bekommst!" Anna hatte einen Tonfall drauf, den sie normalerweise nur in den Streiggeschprächen mit ihrer Mutter Alice an den Tag brachte, aber die Situation war einfach zu viel für sie. 

Charlie starrte sie an. "Hör zu, ich kann nichts dafür, dass du tot bist und mir dein Herz transplantiert wurde, okay? " "Ohne mich, wärst  du diejenige die jetzt als Geist umher wandert, nicht ich!"

Charlie verzog das Gesicht und Anna  musste versuchen nicht auf der Stelle los zu schreien. Wie konnte sie nur so ruhig bleiben, während Anna kurz davor war auszurasten?

"Willst du gar nichts mehr dazu sagen?" Anna ballte ihre Hände zu Fäusten, um sich zu beruhigen. Charlie schüttelte jediglich den Kopf. "Du bist ein mieser kleiner Parasit, weißt du das!  Du gibst dir zwar nicht die Schuld an der ganzen Sache, aber vielleicht solltest du das!"

Annas Gedanken kreisen immer wieder um den Unfall und der Tatsache, dass sie Charlies Leben damit gerettet hatte. Der Preis den sie dafür bezahlen musste war jedoch ihr eigenes Leben. 

Sie musste sterben, damit Charlie überleben konnte. Und diese Tatsache verstand Anna einfach nicht. Wie konnte das Leben oder das Schicksal, was auch immer da seine Hände im Spiel gehabt hat, nur so unglaublich unfair sein?

Sie war doch erst 17 und hatte noch so vieles vorgehabt. Aber nein, all ihre Träume und Zukunftswünsche konnte nun Charlie erleben und nicht sie. 

Charlie, die ihr gestanden hatte, dass sie sie beneidet. Dass sie gerne ihr Leben führen würde. Genauso beliebt sein wie sie selbst. Als ob sie das schaffen würde.  

Und Charlie, die immer noch schweigsam auf ihrem Bett saß und sich nicht einmal traute Anna in die Augen zu schauen. Hatte sie ein schlechtes Gewissen? Wenn ja, gut so, das sollte sie ruhig haben. Schließlich ist das alles ihre Schuld!

Charlies Schweigen brachte Anna ganz schön auf die Palme. Sie waren wirklich verschieden. Fast schon wie Tag und Nacht. Anna war so temperamentvoll und Charlie dagegen die Ruhe selbst. 

"Ich kann das nicht." Mit diesen Worten verließ Anna das Krankenzimmer und betrat den Flur. Am Liebsten würde sie in ein Kissen schreien oder auf einen Sandsack einschlagen. Aber das würde beides nicht funktionieren, denn sie konnte weder ein Kissen anheben noch den Sandsack bearbeiten, ohne durch sie durch zu greifen.

Anna beschloss auf dem Flur auf und ab zu gehen. Vielleicht würde die Bewegung ihr gut tun und ihre Gedanken ordnen. Oder auch einfach nur ihre Wut abbauen.

Nach ungefähr einer halben Stunde auf und ab gehen, kam ein Arzt der in Charlies Zimmer verschwand. Es gehörte sich zwar nicht, aber Anna lauschte dennoch an der Tür. Es sah ja sowieso niemand, dass sie lauschte, also war das egal. 

"Wie geht es ihnen?" Das war die Stimme des Arztes, der Anna auf anhieb unsympathisch war. "Schlecht." Charlies Stimme war leise und bedrückt. Gut so, dachte Anna. "Haben sie Schmerzen in der Brust oder sonstige Beschwerden?" Anna hörte mehrere elektronische Geräusche, der Arzt überprüft wahrscheinlich Charlies Werte. 

Wenn Träume fliegen lernenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt