Gedanken • Germanletsplay

371 21 15
                                    

Müde schloss ich für einen Moment meine Augen und atmete tief durch, blendete alles um mich herum aus. Einatmen. Ausatmen. Und weiter geht's. Seit zehn Minuten lief ich nun in diesem Menschengetümmel hier herum, versuchte mich zu orientieren, scheiterte jedoch kläglich. Ich kam mir so klein vor, wie ein Welpe unter Wölfen. Und die Wölfe waren diese Menschen - nahmen keine Rücksicht auf mich, rempelten mich an, hatten nichts außer abfällige Blicke für mich übrig. Kein Lächeln, nichts. Aber wer würde mich denn schon anlächeln? Ich war doch einfach nur absolut erbärmlich, eine Schwuchtel, ein Taugenichts. Ich brachte keine guten schulischen Leistungen, war schlechter als der Durchschnitt. Täglich prasselten freche Sprüche und Lästereien auf mich ein - Beleidigungen, mal offen, mal versteckt. Merkten die Leute eigentlich, wie scheiße es mir ging? Vor drei Wochen hattest du 'ne Lebenskrise. Definiere Lebenskrise. Mein Freund hatte mit mir Schluss gemacht, das war eigentlich alles. Und dann erfuhren meine Freunde von meiner offenbar vergangenen Essstörung, dass ich mich 'vor ein paar Monaten' geritzt hatte, ich geraucht und getrunken hatte, und das mit fünfzehn. Bitter lächelte ich und kämpfte mich weiter gegen den Strom. Oh nein, vor drei Wochen hatte ich keine Lebenskrise gehabt. Ich habe seit fast einem halben Jahr eine Lebenskrise, wenn man das so nennen mag, und ein Ende scheint nicht in Sicht. Nur, weil ich nicht zeige, dass ich jeden Abend weinend in meinem Bett liege, heißt es nicht, dass es mir gut geht. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder von meinen Freunden enttäuscht sein sollte, dass sie nicht sahen, wie scheiße es mir doch ging. Ich meine - mein bester Freund kannte mich nun gute sechs Jahre, da sollte man schon meinen, dass man es erkannte. Nichts da, ich kämpfte jeden Tag weiter gegen meine Gedanken, meine Sexualität und gegen die Sprüche an. Eigentlich sollten sie es erkennen. Ich meine... Freundschaft... Zeichnete das sich nicht über reden aus? Reden über den Jungen, den man süß findet, über die Noten, die Familie? Reden und zuhören, geben und nehmen. Doch scheinbar war es nicht so, ich hatte immer das Gefühl, dass ich abgewürgt würde.
War ich ihm nicht wichtig?
Offenbar nicht.
Wem war ich denn schon wichtig?
Naiv, zu denken, ich würde jemandem etwas bedeuten.
Ich war doch nutzlos, wertlos.
Homosexuell, krank.
Schulisch nicht der beste, dumm.
Zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, depressiv.
Kurviger als andere, fett.

Ich war durch und durch der schlechteste Mensch auf Erden. War selbstsüchtig, dachte, ich wäre depressiv, war aber normal. Mir ging es doch gut, oder nicht?

Ich hatte wunderbare Eltern, die beide ganztags arbeiteten, um für mich und meinen großen Bruder Geld zu verdienen. Die mich selten sahen und immer noch dachten, ich wäre normal. Die dachten, ich wäre glücklich. Die sich nur um meinen Bruder kümmerten, weil er mal wieder ein Weh-Wehchen hatte.

Ein toller großer Bruder, der bald sein Abitur machen würde. Von dem ich täglich ein 'Was kannst du eigentlich' reingedrückt bekam. Der mich nur anmotzte oder ignorierte. Und ich war der kleine naive Hund, der ihm hinterher lief.

Wunderbare Freunde, denen ich vertraute. Die mir nie zuhörten und mich nicht schätzten, im Hintergrund über meinen absolut hässlichen Charakter redeten.

Chillige Klassenkameraden, die mich akzeptierten. Die mich immer beleidigten und dachten, bloß weil ich lachte, dass ich glücklich war. Die dachten, dass sie alles sagen und machen könnten, da es mich nicht juckte. Leute, auch wegen euch ist die Klinge nicht nur einmal über meine Haut getanzt oder ich hing über der Kloschüssel...

Ein Sitznachbar, der mit mir jeden Scheiß mitmachte. Der mich immer wieder beleidigte, mich runter machte, mich anguckte, als könne ich nichts. Wie oft lag ich wegen ihm nachts da?

Annehmbare Noten. Nicht. Scheiß Noten.

Ich hatte ein absolut tolles Leben.

Ich sollte aufhören, mir all diese Sachen ein zu reden. Entschlossen festigte ich meinen Griff um meine Umhängetasche und lief weiter, die verächtlichen Blicke ignorierend. Erneut rempelte mich jemand an und mir stiegen Tränen in die Augen, als ich die Worte des anderen hörte. 'Steh doch nicht im Weg rum!' Verzweifelt machte ich mich kleiner. Gleich, gleich war ich zuhause. Alleine. Wie immer. Doch die Menschen rückten bäher zusammen, stellten eine Mauer um mich auf. Nein, nein, ich musste weg! Ich musste raus! Ich fing an zu rennen, griff nach meinen Kopfhörern, steckte sie mir ein. Volle Lautstärke. Ich wollte die Menschen nicht hören. Wollte sie nicht sehen. Wollte pure Isolation. Immer schneller rannte ich, weg von allem, weg von jedem. Doch nicht einmal das schaffte ich, hatte das Gefühl, dass es ewig brauchen würde, bis ich zuhause wäre. Mir begegneten Nachbarn, Klassenkameraden, Lehrer, Verwandte. Alle sahen mich verwundert oder abfällig an, doch langsam verschmolzen ihre Gesichter und ich sah keine Menschen mehr, sondern Monster. Was waren wir alle für grausame Wesen, dass wir andere nicht akzeptieren, sondern ausstoßen? Aber wer würde mich schon akzeptieren? Mich? Wohl kaum jemand. Ich war angekommen und mit zitternden Händen schloss ich die Haustüre auf, schmiss sie zu, lehnte mich schwer atmend dagegen. Stille umhüllte mich, unglaubliche Stille. Sie erdrückte mich, alles wurde dumpf. Ich atmete langsam, wurde ruhig. Ruhig zog ich meine Schuhe und Jacke aus, ruhig ging ich nach oben. Ruhig setzte ich mich auf mein Bett und schloss die Augen. Ich war wieder alleine. Wie immer, wer kannte es nicht? Bitter lächelte ich und griff in mein Regal, holte eine kleine Box, in der meine Klingen versteckt waren.

Ich war so erbärmlich.

Ritzte mich ohne Grund.

Erbärmlich.

Es war komplett still im Raum und ich zog die Klinge durch.

Stopp.

Falsche Beschreibung.

Ich setzte sie an und drückte sie tief in meine Haut, so tief es ging. Dann zog ich sie langsam, qualvoll durch. Doch nach kurzer Zeit stoppte ich. Ich ging nie länger als ein Zentimeter. Wollte nicht, dass jemand sah, wie erbärmlich ich war. Eine erbärmliche, fette, dumme Schwuchtel. Die sich ohne Grund ritzte. Traurig, ich war ja nicht depressiv.

Oder war ich das?

War ich mittlerweile an so einem Tiefpunkt angekommen, dass ich einem dummen Spruch verzweifelte?
Dass ich es nicht aushielt, eine 5 zu bekommen?
Dass ich mich mittags über das Klo beugte und kotzte, obwohl ich nur eine Scheibe Käse oder anderweitiges zu mir genommen hatte?
Dass ich nichts trank, ich der Hoffnung, zu dehydrieren, um die Welt nicht mehr zu sehen?

Gott, ich war so erbärmlich.

__________________________________
1054 Wörter
'n paar Gedanken von mir
(zu dem ganzen Stizzel)
Könnte unübersichtlich sein, nicht Korrekturgelesen.
Findet ihr, Manu ist depressiv oder ist es nur Einbildung?
Rosenlicht~

OneShots Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt