Der neunte Juli • Zombey

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Einatmen. Ausatmen. Aufstehen. Ein neuer Tag. Wackelig halte ich mich auf meinen Beinen und stütze mich an der Wand ab, bevor ich die Türe öffne und hinaustrete. Sofort steht Manuel neben mir und greift nach meinem Arm, zieht in sich über die Schulter und will mich stützen - ich reiße mich jedoch weg. "Ich kann das alleine." Meine Stimme ist rau, ich hatte sie seit Wochen nicht mehr genutzt. Erschrocken blickt mich der Jüngere an, ich spüre seinen Blick im Rücken, als ich zu dem Aufzug humple, runter in den Esssaal gehe. Es ist wie immer laut, alle jüngeren Kinder springen hyperaktiv herum und die älteren Waisen kleben an ihren Handys. Ohne ein Gesicht zu verziehen nehme ich mir ein Glas stilles Wasser und setze mich an einen Einzeltisch, ignoriere die teils neugierigen und teils überheblichen Bicke der Anderen. Ich war nun seit vier Jahren hier, mittlerweile sollten sie sich an den blassen Siebzehnjährigen gewöhnt haben. Offenbar nicht. Ohne auch nur einen Schluck meines Wassers zu nehmen sitze ich noch ein paar Minuten da, bis meine Ruhe gestört wird. Patrick, einer der Betreuer und Manuels fester Freund. Dadurch, dass Manuel sich irgendwann mal als mein persönlicher Betreuer identifiziert hat, sieht auch Patrick es als Aufgabe an, jeden Monat einmal mit mir zu reden. Innerlich schalte ich ab, als er zu reden beginnt - es wird sowieso wieder das Gleiche wie immer kommen. 'Du musst mehr Lebensfreude haben.' 'Der Tod deiner Eltern ist jetzt vier Jahre her, irgendwann muss man sich der Realität stellen.' 'Wir sind für dich da.' Immer das Gleiche, jeden Monat. Aber... Lebensfreude? Wie, wenn ich Albträume habe, die mich nächtelang wach halten und die mir selbst am Tag im Hinterkopf bleiben? Wie kann ich mich der Realität stellen, wenn ich immer zu daran denke, dass es meine Schuld gewesen ist? Wie können alle immer für mich da sein, wenn sie nichts nachvollziehen können? Schweigend warte ich, bis Patrick fertig ist, und einsieht, dass es nichts bringt. Seufzend erhebt er sich und geht zu Manuel, ich jedoch gehe hoch in mein Zimmer und ziehe mich um. Schwarze Hose, dunkelgraues T-Shirt, schwarzer Hoodie. Bevor ich meinen Hoodie überstreife, streiche ich mit meinen Fingern über meine Arme, die von oben bis unten aufgeschlitzt sind. Wie ein Stück Fleisch, als wäre ich ein Tier. So fühle ich mich auch, mit anderen Menschen ohne Freiheiten irgendwo eingepfercht, in einem Waisenhaus zu leben ist entsetzlich, besonders wenn man davor den Luxus namens Liebe der Eltern erfahren hat. Gedankenverloren kratze ich mit meinem Fingernagel in eine etwas ältere Wunde - jetzt blutet sie wieder. Hätte ich es gelassen, wäre sie in einem halben Monat zu einer normalen Ritznarbe geworden. Naja, auch egal. Seufzend streife ich endlich den Hoodie über und schnappe mir meinen Schulrucksack, gehe zur Bushaltestelle.

Im Bus ist es laut, ich höre das Gekreische der Unterstüfler trotz voller Lautstärke durch meine Kopfhörer. Genervt rolle ich mit meinen Augen und kratze unter meinen Pulli an meinem Arm herum, um mich ab zu lenken, ignoriere den verwirrten Blick der alten Frau neben mir. Plötzlich erwische ich eine eher frischere, tiefere Wunde, welche auch sofort anfängt stark zu bluten. Laut fluche ich und nehme meine Kopfhörer heraus, krame nach einem Tuch um die Blutung ein bisschen zu stoppen. Es ist dann schon irgendwie eklich, wenn der Hoodie mit Blut vollgesogen ist. Nachdenklich blicke ich nach draußen, drücke nebenbei das Tuch auf meinen Arm, bis mich ein kleiner Junge antippt. Verwundert blicke ich auf ihn herab und er zeigt auf meinen Arm. "Wieso ist das so?" Will er wissen und ich schmunzle leicht. Seine Stimme, sein Blick, sein ganzes Wirken ist noch so jung, so unschuldig, so unwissend. "Das habe ich gemacht" lächle ich. "Wieso?" Er reisst erschrocken seine Augen auf und ich lache leicht. "Ich mache das, weil ich abgelenkt sein will." Er nickt unentschlossen und geht, ich blicke ihm nach. Er soll noch nicht wissen, was alles passieren kann und wieso ich das mache, wieso es mir nicht gut geht. Er hat noch eine wunderschöne Kindheit und ein tolles Teenagerleben vor sich, ich möchte ihm das nicht kaputt machen. Die Frau neben mir schüttelt grummelnd ihren Kopf und ich schnaufe, bevor ich aufstehe und mich von ihr entferne. Auf so Leute kann ich scheißen, zudem sind wir gleich an meiner Schule.

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