Chapter I

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Ich steige aus meinem Auto. Mein Atem gefriert in der Luft und einige vereinzelte Schneeflocken suchen sich ihren Weg auf die Erde. Eigentlich totale Idylle. Wäre da nicht der große unförmige Klotz vor mir, auch bekannt als Schule. Ach ja und nicht zu vergessen, die ganzen Schüler, die lärmend davor warten. Wie sehr ich diese Schule doch liebe. Nicht. Ich stapfe so schnell ich kann und ohne einen Blick nach links oder rechts auf den großen unförmigen Klotz zu. Erst als ich die schwere Tür aufstoße und mir die warme Luft entgegenschlägt, hebe ich meinen Kopf und lasse meinen Blick über die Schüler gleiten. Diese stehen nur vereinzelt vor ihren Schließfächern, da die meisten von ihnen schon in der Klasse sitzen. Der Unterricht sollte nämlich jeden Augenblick beginnen. Da mir diese Tatsache im Anbetracht meiner Noten herzlich egal ist, schlendere ich gemütlich zu meinem Schließfach. Nummer 265. In aller Seelenruhe nehme ich meine Bücher heraus und zucke nicht einmal mit der Wimper, als die Schulglocke läutet. Wie sehr ich dieses Geräusch doch hasse. Die Schüler um mich herum werden immer weniger und ich mache mich auch langsam auf den Weg in meine Klasse. Als ich an der Tür ankomme, straffe ich die Schultern und setze ein möglichst zerknirschtes Gesicht auf. Ich öffne die Tür und sehe die Lehrerin entschuldigend an, die dieses jedoch mit einem sanften Lächeln quittiert. „Guten Morgen Samantha. Setz dich doch bitte." Jeden anderen Schüler hätte das Zuspätkommen wahrscheinlich einen strengen Blick, wenn nicht sogar eine Strafaufgabe eingebracht. Aber nicht mir. Ich habe kaum Freunde und die einzigen, die man als solche bezeichnen könnte, wohnen zu weit weg. Deshalb bleibt mir umso mehr Zeit zum Lernen. Mein Notendurchschnitt beträgt 1,0. Sowohl die Lehrer als auch die Schüler sehen in mir nur die nette, aber stille und verschlossene Außenseiterin, die ich vorgebe zu sein. Mit einem Lächeln wende ich mich von der Lehrerin ab und setze mich auf meinen Platz. Mein Sitznachbar, ein Nerd wie er im Buche steht, lächelt mich schüchtern durch seine meterdicken Brillengläser an. Natürlich lächle ich zurück und nehme meine Bücher aus meinem Rucksack.

Die Stunden vergehen quälend langsam und ich kann es kaum erwarten, endlich aus dieser Anstalt herauszukommen und die Fassade fallen zu lassen. Gerade als ich das Gebäude verlassen will, stellen sich ein paar Mädchen mir in den Weg. Und wenn ich Mädchen sage, dann meine ich MÄDCHEN. Die, die Mangas lesen und in einer pink glitzernden Einhorn-Kawaii-Welt leben. „Hiiii wir wollten dich fragen, ob du nicht vielleicht mit uns noch zu Starbucks kommen willst?" Sie kichern. Alle vier. „Oh nein, ich würde ja furchtbar gern aber heute habe ich leider keine Zeit. Wisst ihr, morgen habe ich einen Test und ich muss noch totaal viel lernen:" Ich lächle sie zuckersüß an und sie kaufen es mir tatsächlich ab. „Okii das ist voll schade aber vielleicht ein anderes Mal." „Ja, vielleicht ein anderes Mal. Byee" Sie winken mir noch zum Abschied und ich verlasse die Schule. Wieder fröstelnd, da ich eine viel zu dünne Jacke angezogen habe, stapfe ich zurück zu meinem Auto. Grundsätzlich habe ich ja nichts gegen Mangas oder deren Leser, aber man kann alles übertreiben. Diese vier sind dafür das perfekte Beispiel. Endlich erreiche ich mein Auto. Ich steige leicht zitternd ein und mache die Heizung an. Nach circa zwei Minuten ist mir wieder warm genug, um nach Hause zu fahren.

Unser Haus, also das von mir und meiner Mutter, ist nur einige Minuten von der Schule entfernt. Seit meine Eltern sich vor acht Jahren trennten, wohne ich allein mit ihr in dem für zwei Personen viel zu großen Anwesen. Unser Verhältnis ist, sagen wir mal nicht das beste. Sie ist viel unterwegs und wir reden nicht wirklich viel miteinander. Das Verhältnis zu meinem Vater ist allerdings, zumindest soweit ich das beurteilen kann, noch um einiges schlechter. Ich habe ihn jetzt seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr gesehen, insgeheim glaube ich, dass meine Mutter ihm den Kontakt zu mir verboten hat. Zumindest hoffe ich das, ich meine niemand will einen Vater, der sich nicht für sein Kind interessiert. Ich habe außerdem noch einen Bruder. Beziehungsweise ich hatte einen Bruder. Er ging nach der Trennung meiner Eltern zu meinem Vater und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Also seit ungefähr acht Jahren. Ich habe ihn immer regelrecht vergöttert, für mich war er einfach der größte Held in meiner damals noch so heilen Welt. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich ihn zuletzt sah. Wie mir die großen Kindertränen die Wangen hinunterliefen und er mir versprach, mich in der darauffolgenden Woche zu besuchen. Ich wartete die ganze Woche lang und nach einem Monat musste ich mich damit abfinden, dass er nicht mehr kommen würde. Ich war zutiefst verletzt. Er ließ mich einfach so mit unserer Mutter, der die Trennung mehr zu schaffen machte als uns beiden zusammen, alleine. Seitdem ist er für mich gestorben. Seit der Trennung, die die ganze Familie in zwei Hälften gerissen hatte, wurde auch mein Leben vom Tod geprägt. Viel zu viele Menschen, die ich liebte, mussten von uns gehen, unter anderem auch meine damals beste Freundin. Ihr wurde im Alter von zarten 13 Jahren Krebs diagnostiziert und ein Jahr später starb sie an ihrer Krankheit. Sie kämpfte bis zum bitteren Ende, doch all die Wehr brachte nichts und sie musste schlussendlich von uns gehen. Nach ihrem Tod fiel ich in ein tiefes Loch. Es dauerte Jahre, bis mein Leben sich wieder halbwegs stabilisierte. Obwohl man das schon fast nicht mehr Leben nennen kann. Ich stehe auf, gehe in die Schule, lächle, komme nachhause, lerne, weine, schlafe. Das ist mein Alltag. Früher hatte ich auch noch ein Hobby, eine Leidenschaft, die ich aber zusammen mit meiner besten Freundin beerdigt habe. Ich weiß nicht woher ich jeden Tag die Energie fasse, um nicht aufzugeben, sondern weiter zu machen. Immer weiter und weiter diesen traurigen Alltag leben.

Ich fahre das Auto in die Garage. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich weine. Lautlos. Die Tränen bahnen sich ihren Weg über meine Wangen bis hinunter zu meinem Kinn, von wo aus sie dann in meinen Schoß fallen. Ich stelle den Motor ab und steige aus dem Auto. Ich habe gelernt, wie man mit Trauer umgeht. Nichts anmerken lassen, die Fassade aufrecht halten. Lächeln. Immer nur lächeln. Mittlerweile ist meine Schutzmauer schon so dick, dass ich selbst manchmal nicht hindurchsehen kann. In solchen Momenten bin ich glücklich, oder gebe vor, glücklich zu sein. Ich schließe die Haustür auf und gehe geradewegs in mein Zimmer. Die prunkvolle Einrichtung beachte ich nicht wirklich. Ich habe mich schon längst an diesen nervigen Schein-Reichtum gewöhnt. An die wertvollen Bilder in unserem Flur oder an die riesigen Räume, die man schon fast Hallen oder Säle nennen kann. Ich gehe in mein Zimmer und sperre die Tür hinter mir ab. Ich will meine Mutter nicht sehen.

„Olivia?" Jemand klopft sanft an meine Tür. „Iss wenigstens etwas, du bestehst ja so schon nur aus Haut und Knochen." Unwillkürlich muss ich lächeln. Die herzliche und sanfte Stimme gehört zu Mary, unserer Haushälterin. Sie ist durch und durch eine gute Seele und erinnert mich manchmal an eine Großmutter, die ich nie hatte. Ihr zuliebe stehe ich wieder von meinem Schreibtischstuhl auf und gehe wieder aus meinem Zimmer. Ich rieche aus der Küche schon die Lasagne und höre Mary, wie sie leise summend die Lasagne in Stücke schneidet. Lautlos trete ich hinter sie und klaue mir ein Stück ihres alten Familienrezepts. Natürlich bleibe ich nicht unbemerkt und kassiere einen leichten Schlag auf die Finger. „Na na na, junge Dame, ich muss schon bitten." Ich grinse sie an und sie grinst zurück. Auf einmal höre ich, wie die Haustür ins Schloss fällt und will mich gerade unbemerkt aus dem Staub machen, als mich Mary zurückhält. „Ihr müsst euch aussprechen, Liebes. So kann das nicht weitergehen." Ich nicke ergeben und warte, bis meine Mutter die Küche betritt. Ihr kleines Lächeln erstirbt sofort, als sie mich sieht. „Solltest du nicht in der Schule sein?" Ihre Stimme ist kalt und schneidend. Ich kann mich fast nicht mehr daran erinnern, dass sie einmal anders war. „Nein. Ich habe donnerstags immer nur sechs Stunden." Meine Stimme hatte im Laufe der Zeit ihre Kälte ihr gegenüber angenommen. Sie nickt kurz und begibt sich dann ins Wohnzimmer. Oder in den Salon, wie sie es nennt. Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich dieses protzige Getue hasse? Augenrollend gehe ich mit meinem Teller voller köstlicher Lasagne zurück in mein Zimmer und mache mich an die Hausaufgaben.

Ich sitze jeden Tag ungefähr vier Stunden an dem ganzen Schulzeug, da ich jede Aufgabe genau und gründlich mache. Nach dieser... Prozedur gehe ich so gegen 21 Uhr in meinen begehbaren Kleiderschrank, den ich absolut unnötig finde, da er nicht einmal bis zur Hälfte vollgeräumt ist. Ich ziehe mein weißes Oversize-shirt an und eine kurze Jogginghose. Danach schlurfe ich in mein Bad, wo ich meinen Dutt aufmache, meine mir fast bis zur Taille reichenden aschblonden Locken kämme, Zähne putze und mich abschminke. Ich schminke mich nur dezent, also meistens bleibt es bei Wimperntusche und einem Hauch Concealer, da ich einerseits zu faul bin, um mich zu schminken und ich andererseits einfach keine Zeit oder Lust dazu habe. Ich gehe wieder in mein Zimmer und falle todmüde ins Bett. Der einzige Ort, an dem ich mit meinen Erinnerungen und Gedanken allein sein kann. Wenn auch nur im Traum. Ich träume fast immer. Immer die gleichen Träume. Manchmal wache ich mitten in der Nacht schweißgebadet auf. Danach kann ich meistens nicht mehr schlafen, weshalb ich fast jeden Tag schon um fünf aufstehe. Und das obwohl ich ein Morgenmuffel bin wie er im Buche steht. Wenn man Glück hat, bekommt man mich mit zwei Tassen Kaffee in unter einer Stunde wach. Wenn man kein Glück hat... schnauzt du alle den ganzen Tag an und bist angepisst? Ja, so ungefähr. Nur bemerken es die meisten meiner Mitmenschen einfach nicht. Worüber ich eigentlich ziemlich froh bin. Ansonsten hätte ich wahrscheinlich schon ziemlichen Ärger bekommen. Ich denke noch einige Zeit nach, hauptsächlich über meinen Vater und meinen Bruder. Wie eigentlich jeden Abend. Bis ich endlich einschlafe.

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