Am nächsten Morgen werde ich wie gestern von Ash geweckt, diesmal allerdings mit dem Unterschied, dass er auch zur ersten Stunde in die Schule muss. Also sitzen wir beide zwanzig Minuten später fertig in der Küche und essen unser provisorisches Frühstück, welches aus einem Müsliriegel besteht.
Ich fahre etwas früher als mein Bruder, da er es nicht einsieht, früher als unbedingt nötig in die Schule zu fahren.
Als ich am Parkplatz der Schule ankomme, zögere ich nicht, wieder zur ersten Reihe des Parkplatzes zu fahren und siehe da, heute sind zwei Plätze nebeneinander frei. Ich grinse teuflisch und steige provokant in Steins Richtung lächelnd aus dem Wagen aus.
Ich schließe die Tür und schließe ab, danach setze ich meinen Weg, der direkt an Stein vorbeiführt, fort und betrete das Schulgebäude. Drinnen werde ich wieder von Mel und Jen in Empfang genommen, die anscheinend immer schon eine halbe Stunde früher in der Schule sind und somit schon auf mich warten. Zum Glück habe ich auch meinen ersten Kurs heute mit den beiden und weiß somit dank ihnen, wohin ich überhaupt gehen muss.
Nach diesem anstrengenden Schultag fahre ich wieder nachhause und treffe, als ich die Küche betrete, zu meiner großen Verwunderung Dad an. Er sitzt am Tisch und scheint auf jemanden zu warten, wahrscheinlich auf mich oder Ash.
„Sam! Schön, dass du da bist! Nimm dir doch etwas zu essen, Anita hat gekocht, es steht in der Küche." Ich nicke und hole mir Spaghetti aus der Küche, dann setze ich mich gegenüber von Dad an den Tisch.
Ich sehe ihn skeptisch an. „Gibt es irgendetwas? Ich meine, etwas, das du mir sagen willst?" Anscheinend habe ich ihn kalt erwischt, denn er nickt. „Aber warten wir bitte noch auf deinen Bruder, es betrifft ihn auch." Ich nicke und beginne, meine Nudeln zu essen.
Nach etwa einer Viertelstunde kommt dann auch schon Ash und sieht uns verwundert an. „Ist irgendwas oder warum sitzt ihr beide da und starrt mich an?" Dad meldet sich wieder zu Wort. „Ich muss mit euch etwas sehr Wichtiges besprechen. Setz dich bitte."
Ash nimmt gegenüber von mir Platz und Dad beginnt zu sprechen: „Ihr wisst vielleicht, dass mein Job ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt. Auch jetzt gerade. Ich muss wahrscheinlich über eine längere Zeit, also ungefähr zwei Monate, nach Amerika und dort Geschäftliches regeln.
Sam, es tut mir wirklich leid, dass ich dich und Ash jetzt, kurz nachdem wir wieder zusammengefunden haben, gleich allein lassen muss, aber es geht leider nicht anders. Mir ist außerdem nicht wohl dabei, euch beide unbeaufsichtigt im Haus zu lassen, also wird euere Tante in dieser Zeit zu uns ziehen.
Vielleicht bleibt sie auch länger, sie hat sich vor kurzer Zeit von ihrem Mann, jetzt wohl eher Ex, scheiden lassen. Ich glaube ihr kanntet ihn auch, sein Name war Phil. Er und euere Tante, Jessica, kamen uns manchmal besuchen, als ihr noch kleiner wart.
Oh, und euere Cousins kommen höchstwahrscheinlich auch mit. Erinnert ihr euch? Luke und Eva, die Zwillinge. Sie sind jetzt beide siebzehn." Ich nicke erstmal etwas überrumpelt. Ash scheint auch etwas überrascht zu sein.
„Wiegesagt, es tut mir wirklich leid, aber ich kann den Auslandsaufenthalt weder verschieben, noch absagen, also bleibt mir nichts anderes übrig. Außerdem dachte ich, dass es mal ganz nett wäre, die Familie wieder etwas zusammenzubringen. Wir haben uns alle aus den Augen verloren und mir wurde vor Kurzem erst bewusst, wie schnell die Zeit vergeht und wie schnell man Menschen wieder verliert."
Bei seinem letzten Satz sieht er vor allem mich an.
„Dad? Ich bin dir nicht wirklich böse, dass du wegmusst. Natürlich wäre es schön gewesen, jetzt mehr Zeit mit euch beiden zu verbringen, aber es muss anscheinend sein. Ich habe aber noch eine Frage: Wann kommt Jessica? Und eben die Zwillinge wahrscheinlich auch."
Dad scheint erleichtert zu sein, dass ich ihm nicht so böse bin, wie er es erwartet hatte, und lächelt mich an.
„Du weißt vielleicht, dass in zwei Wochen, beziehungsweise in genau zehn Tagen, euere Semesterferien beginnen. Sie werden am Freitag davor ankommen. Ich fliege leider schon zwei Tage davor, also am Mittwoch, und ihr seid in der Zwischenzeit allein. Nur Anita wird manchmal vorbeischauen."
Ich nicke. „Und jetzt lasst euch nicht weiter stören, sondern macht eure Hausaufgaben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr welche habt."
Da hat er leider recht. Also gehe ich mit Ash hinauf in unsere Zimmer. Ich denke zwar, dass ich es mittlerweile schaffen dürfte, allein hinzufinden, aber sicher ist sicher.
Drei Stunden später liege ich im Bett, ich habe meine ganzen Hausaufgaben gemacht (zu meiner Verwunderung ist der Stoff hier sogar etwas leichter als in meiner alten Schule) und warte darauf, dass ich endlich einschlafe.
Ich bin nämlich so ein Mensch, der leider manchmal ein oder zwei Stunden braucht, um einzuschlafen, weil mich einfach meine Gedanken ewig wachhalten.
Ich versuche krampfhaft, mich wieder an meine Tante und meine Cousins zu erinnern. Leider fällt mir nicht sehr viel ein.
Das einzige, an das ich mich vage erinnern kann, ist, dass sie vielleicht einmal bei uns waren. Und von diesem Tag habe ich nurmehr in Erinnerung, dass ich meinen Cousin überhaupt nicht leiden konnte. Eva war, glaube ich, immer die ruhigere von den beiden. Mit diesen Gedanken schaffe ich es auch irgendwann, einzuschlafen.
Am Montag darauf bin ich gerade auf dem Weg zu meiner Musikstunde, als ich auf Stein treffe. Der leider auch in den gleichen Kurs muss.
Also müssen wir wohl oder übel nebeneinander bzw. direkt hintereinandergehen. Außer einer von uns riskiert Verspätung. Ich aber sicher nicht.
„Du bist immer noch mit Ash zusammen, oder?" Ich schaue auf und direkt in das Gesicht von Stein, der mich abwartend ansieht.
„Ich höre mir jetzt sicher nicht schon wieder einen Vortrag darüber an, dass Ash ja so gefühllos ist und ich ihn so schnell wie möglich verlassen sollte. Also kannst du es dir gleich sparen, denn das werde ich nicht tun."
Meine Stimme ist kalt und schneidend, und ich sehe, wie Stein sogar ein bisschen zusammenzuckt. Entgegen meiner Erwartung, lässt Stein es aber nicht bleiben.
„Du bist doch mit dieser Mel befreundet, oder?" Entnervt sehe ich ihn an.
„Das interpretiere ich jetzt mal als ein „Ja". Hat sie dir noch nie von ihrer früheren besten Freundin erzählt?"
Fragend hebe ich eine Augenbraue. „Nein, hat sie nicht. Und auch wenn sie es getan hätte, würde es dich nichts angehen." Ich wende mich wieder ab, aber Stein gibt nicht auf.
„Sie hat dir also noch nie von Aurora erzählt? Das hätte sie besser tun sollen."
Ich fahre herum. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich aus meinen Beziehungen heraushalten würdest. Kümmere dich lieber um dein eigenes Leben, falls du so etwas überhaupt hast."