„Ich habe dir doch erzählt, dass ich eine Vergangenheit habe, auf die ich nicht stolz bin, oder?" Ich nicke.
„Damit hat eigentlich alles angefangen. Du wirst es nicht gern hören, aber ich war, klischeehaft wie ich bin, in einer Gang. Also in einer Gang, die mit Drogen dealt und illegale Autorennen veranstaltet. Genau genommen war ich nicht nur in der Gang, sondern der Anführer.
Wir nannten uns Black Venom. Einfach nur Black Venom. Aber um noch klischeehafter zu werden, hatten wir ein Gangtattoo. Ja, ein Tattoo, wie eine Narbe für die Ewigkeit. Er lacht tonlos. Ich habe es immer noch. Am rechten Schulterblatt. Es ist zwar sehr klein, aber es wird wahrscheinlich nie verschwinden.
Auf jeden Fall löste sich diese Gang, in der auch Liam, Michael und Niki waren, vor eineinhalb Jahren auf, da wir alle irgendwie wieder in unser altes Leben zurückkehren wollten. Und aus anderen Gründen, die bei jedem unterschiedlich waren.
Bei mir war es Aurora. Sie half mir, von dem Ganzen wegzukommen. Ich habe sie geliebt. Wir waren fast ein Jahr zusammen, genau 341 Tage.
Oder nein, ich habe sie nicht geliebt.
Ich liebe sie immer noch."
Sein Gesicht nimmt einen verträumten Ausdruck an und er fährt fort.
„Im Juni des letzten Jahres holte mich aber meine Vergangenheit ein. Wir mussten Black Venom wieder zusammenführen. Mir wurden Drohungen geschickt, die Aurora betrafen. Ich konnte nicht zulassen, dass ihr irgendjemand wehtat, oder sie gar tötete.
Mir blieb nichts anderes übrig, verstehst du? Ich musste mich von ihr trennen, wenn ich nicht wollte, dass ihr etwas passiert. Und da ich wusste, dass sie sich damit nicht abfinden würde und so lang es möglich war bei mir bleiben würde, musste ich ihr die Wahrheit verheimlichen.
Ich sagte ihr, dass ich sie betrogen hatte.
Mehrmals.
So konnte sie wenigstens über mich hinwegkommen. Wenigstens sie konnte ohne mich ihr Glück finden, wenn ich es ohne sie schon nicht konnte. Denn mit mir lebt jeder ständig in der Gefahr, verletzt zu werden. Sie war, wie erwartet, am Boden zerstört.
So schlimm, dass sie beschloss, zumindest ein halbes Jahr zu ihrer Familie nach Australien zu fahren. Und was soll ich sagen, dort lebt sie seit Juli letzten Jahres.
Und sie hasst mich.
Abgrundtief.
Und nicht nur sie.
Ich hasse mich selbst dafür, dass ich so dumm war und sie gehen habe lassen, und dafür, dass ich in meiner Vergangenheit so unglaublich dumm war.
Deshalb hasst mich auch Mel. Sie war ihre beste Freundin. Aber ich hatte doch keine Wahl!"
Am Ende seiner Rede kann ich eine einzige, einsame Träne ausmachen, die sich den Weg über seine Wange bahnt. Und nur dieser winzige Wassertropfen löst in mir einen Schmerz aus, als würde mein Herz zerreißen. Ich glaube, dass es das erste Mal ist, an dem ich ihn weinen sehe und er älter als fünf Jahre alt ist. Und ich kann es kaum glauben. Er, der immer starke Ash, der Fels in der Brandung. Er ist innerlich zerrissen. Ich setze mich zu ihm und nehme ihn in den Arm. Tröstend streiche ich ihm immer wieder über den Rücken.
Irgendwie bin ich ziemlich überrascht, dass Ash wirklich so eine Vergangenheit hinter sich hat. Andererseits wundert es mich auch nicht wirklich, weil wenn ich mich nicht dazu entschieden hätte, meinen vollen Fokus nach der Trennung zuerst auf Melody und dann auf die Schule zu legen, hätte ich wahrscheinlich ähnliches hinter mir.
Habe ich eigentlich auch, wenn ich ehrlich bin. Ich war in meiner Heimatstadt mit vielen Menschen aus den dort ansässigen Gangs befreundet.
Bei ihnen könnte ich mich eigentlich auch wieder einmal melden.
Immerhin waren sie in letzter Zeit die einzigen, die irgendwie an Freunde herankamen. Ash löst sich wieder aus meiner Umarmung.
„Danke. Das war dringend nötig." Er lächelt mich liebevoll an und ich erwidere sein Lächeln.
„Tut mir leid, wenn ich es jetzt nicht einfach so stehen lasse, aber du hast gesagt, dass Aurora mindestens ein halbes Jahr in Australien bleibt. Kann es also sein, dass sie bald wiederkommt?" Er nickt.
„Ich habe Angst vor dem Moment, in dem ich ihr wieder in die Augen sehe.
Ich habe Angst, dass ich darin immer noch nur diesen abgrundtiefen Hass sehe wie letztes Jahr.
Ich ertrage diesen Blick nicht."
Seine Stimme ist schwach, fast schon zerbrechlich.
„Warum sagst du ihr nicht einfach, wie die Dinge letztes Jahr wirklich standen? Oder bist du immer noch in diesem Gangleben drinnen?" Ash schüttelt den Kopf.
„Nein, zum Glück nicht mehr, aber Bradley ist es. Er ist von einer Gang, mit der wir öfter kooperiert haben. Er, oder eher sein Anführer, will, dass Black wieder zurückkommt und ihnen hilft, ihr Territorium zu vergrößern und die anderen Gangs zu schwächen.
Wir wären viele Leute, weit über 100, aber ich will nicht zurück und ich kenne auch keinen aus der Gang, der das wollen würde. Alle bis auf zwei oder drei von ihnen haben ein ganz normales Leben, die anderen sind zu Bradleys Gang gegangen.
Wir laufen nur in Gefahr, dass Bradleys Anführer das nicht auf sich sitzen lassen will und so versucht, Black Venom gewaltsam wieder zu vereinen. Ich versuche mit allen Mitteln, das zu verhindern, aber manchmal reicht es nicht, alles zu geben."
Ich nicke verständnisvoll. Gangkriege können grausam sein. Ich musste das am eigenen Leibe miterleben. Schon oft genug stolperte ich am Morgen, wenn ich verwundete Freunde von mir suchte, in den Grenzgebieten der Territorien über leblose Körper.
Zum Glück waren alle, die ich sah, nur schwer verletzt und nicht tot.
Aber ich weiß, dass solche Kriege schon genügend Opfer eingefordert haben. Doch normale Bürger merken das nicht.
Die Gangs arbeiten im Hintergrund und ziehen von dort die Fäden. Doch wenn man einmal in so etwas hineingezogen wurde, kommt man nur schwer wieder heraus.
Nachdem man manche Dinge weiß, sieht man die Straßen am Abend mit anderen Augen.
Es gibt Stadtviertel, in denen man sich in der Nacht besser nicht mehr allein auf die Straße trauen sollte. Und was soll ich sagen? Ich war schon oft genug dort, um das behaupten zu können.
Mein Handyklingelton reißt mich aus meinen Gedanken. Mel. Ich gehe ran und höre sofort die Stimme meiner Freundin.
„Sam, hast du vielleicht Lust, morgen mit mir shoppen zu gehen? Deine Verwandten kommen doch erst am Freitag, oder?"
„Ja, können wir gerne machen, ich wollte eh auch schon länger ein bisschen Deko für mein Zimmer kaufen. Treffen wir uns dann einfach nach der Schule bei mir?" nachdem wir uns für den morgigen Tag verabreden und ich mich dann auch schon von ihr verabschiede , setze ich mich wieder zu Ash an den Tisch.
Dieser steht allerdings schon bald auf und verkündet, jetzt schlafen zu gehen und ich tue es ihm gleich, trotz dem Gedanken, dass Ash jetzt mit seinem Kummer allein ist.