Kapitel 7: „Wahrheiten"

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Zwischen den Baumwipfeln der dicht bewachsenen Tannen Arendelles waren die beiden Schwestern mehr oder weniger unter sich. Sie redeten jedoch nicht. Sie ritten auf ihren Pferden einfach nebeneinander her. Bis die Rothaarige schließlich das Schweigen brach. „Was denkst du, Elsa?", fragte Anna etwas irritiert und schaute sich nochmals nach allen Seiten um, „Ich meine, ich war im Gegensatz zu dir zwar schon bei Kristoffs Freunden, aber den Weg hab' ich mir jetzt nicht unbedingt gemerkt. Ich hoffe, es ist nicht mehr weit." Die Blonde strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und seufzte. Was sollte sie darauf auch schon antworten?
Nach einer Weile ritten sie an einer kleinen Holzhütte vorbei, die in dieser sommerlichen Umgebung fast schon zu bieder wirkte. Zumindest für Anna, da sie sie beim letzten Mal nur im tiefsten Pulverschnee besucht hatte. „Das ist Oakens Laden. Vielleicht können wir ihm ja nach dem kürzesten Weg fragen?", schlug die Rothaarige vor, „Gut, beim ersten Mal hat er mir und Rapunzel zwar nicht sonderlich helfen können, aber fragen kostet ja nichts, oder?" Sie kicherte und trieb schon ihr Pferd in die Richtung der Hütte, als die Schwestern plötzlich beide herumfuhren. Sie hörten Gelächter und Geplapper. Anscheinend waren sie nicht alleine in den Wäldern unterwegs. Und es dauerte nicht lange da kamen eine blonde Frau und ein rothaariger Mann, mit drei Kinder, die um sie herumwuselten, zwischen den Bäumen genau auf die beiden Schwestern zu. Sie schienen eine glückliche Familie zu sein, die wohl auf dem Weg zu Oakens Krämerladen waren. Das Mädchen wurde von ihren zwei Brüdern um die Beine ihrer Mutter gejagt, aber alle lachten und waren fröhlich. „Philipp, Gordon, Elise; Reißt euch mal kurz zusammen, wir sind ja gleich bei eurem Onkel!", maßte ihr Vater sie an. Die Jungen, die, so wie es aussah, älter als das Mädchen waren, hielten augenblicklich inne und schlenderten schon mal zum Krämerladen hinüber, weshalb sie ganz achtlos an Anna und Elsa vorbeiliefen. Das rothaarige Mädchen stattdessen wurde von ihrer Mutter an die Hand genommen und lächelte, während sie ihren Korb, den sie trug, hin- und herschwenkte. Diese ganze Szenerie lockte der rothaarigen Prinzessin kleine Tränen in die Augen. Das Bild einer absolut normalen Familie bot sich den Schwestern, so eine, wie sie niemals wieder sein würden.
„Na gut, dann wollen wir mal!", sprach Anna enthusiastisch und trieb ihren Schimmel in Richtung des glückseligen Elternpaares, „Ähm, Entschuldigung, könnten Sie uns möglicherweise bei etwas behilflich sein?" Als auch Elsa in deren Richtung angeritten kam, erkannten die Erwachsenen die beiden Schwestern sofort. Dennoch war es die Frau, die sich verbeugte und antwortete: „Eure Hoheiten, welche Ehre?" Anna befahl ihr freundlich, sich wieder zu erheben, was sie schließlich wiederwillig tat. Allerdings nahm ihr Mann jetzt das Wort für sie auf. „Nun, ich heiße Oliver und das sind meine Frau Diana und unsere Tochter Elise. Unsere Söhne Gordon und Philipp müssten Sie aber bestimmt mitbekommen haben. Ja, also bei was können wir Ihnen denn behilflich sein?", fragte er die adligen Schwestern.
„Oh, sehr erfreut! Und, naja... Äh, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber...?"
„Was meine Schwester sagen möchte...", unterbrach Elsa Anna bei ihrem Gestottere, „Wie kommt man denn am besten zu der Wohnstätte der magischen Steintrolle? Wie Sie, denke ich, wissen, sind diese sehr gute Freunde vom Ehemann meiner Schwester." Die blonde Königin brachte es wirklich erstaunlich gut auf den Punkt.
„Ah, verstehe!", gab der Rothaarige von sich und wies in eine bestimmte Richtung in den Wald hinein, „Das ist nicht weit von hier. Wir waren zwar selbst noch nicht persönlich dort, aber wir haben schon von Leuten gehört, die dorthin unterwegs waren, weil sie auf der Suche nach ihren Erinnerungen waren. Doch das dürfte Ihnen ja bekannt sein. Wie dem auch sei, Sie müssen einfach durch den Abschnitt des Waldes reiten, den ich Ihnen gerade gezeigt habe, dann immer geradeaus, aber den Weg natürlich im Auge behalten. Eigentlich müssten Sie die Stätte aber auch sehr schnell erkennen."
„Vielen Dank für Ihre Hilfe!", bedankte sich Elsa höflich. Doch die blonde Frau winkte nur ab und strubbelte ihrer Tochter durchs rote Haar. „Nicht doch, Sie würden doch dasselbe für uns tun, wir helfen gerne, wo immer wir können."
„Genauso wie mein Bruder, stimmt's, Prinzessin Anna?", meinte Elise' Vater und lächelte der Rothaarigen gut zu. Elsa musterte ihre Schwester irritiert und auch Anna kam nicht gleich darauf, von was der Mann sprach. „Oh!", fiel es ihr schließlich doch wie Schuppen von den Augen, „Sie sind also Oakens Bruder. Und das ist ihre Familie. Beschützen Sie sie gut, ja?" Annas Blick wurde fast schon sehsüchtig, während der rothaarige Mann nickte. „Das werde ich, selbstverständlich!", gestand er und sah die Prinzessin mitleidig an, wobei er auch teilweise in die Richtung seiner Königin wies, „Passen Sie aber auch gut auf die Ihre auf, Prinzessin!" Anna fasste sich dabei unmerklich an den Bauch und nickte kleinlich, ehe sie kräftig schlucken musste.
Ihre blonde Schwester dagegen hatte sich schon wieder halb abgewandt und winkte die Rothaarige zu sich. Diese folgte der Anweisung Elsas augenblicklich, sodass sie nicht länger über die Worte des Familienvaters nachdenken musste. „Also dann...", rief Anna den Leuten, die ihnen so gut geholfen hatten, noch zu, „Vielleicht sieht man sich mal wieder?"
„Mit bestimmter Garantie!", meinten die Frau und ihr Mann beinahe gleichzeitig, „Irgendwann einmal." Dann wandten auch sie sich ab und setzten ihren Weg zu Oakens Laden, gemeinsam mit ihren Kindern, fort. Genauso, wie die beiden Schwestern ihren Weg fortsetzten, der sie zu den sogenannten ‚Beziehungsexperten'-Freunden von Annas Mann führen würde. Hoffentlich zumindest.
Somit ritten sie durch den Waldabschnitt, der ihnen empfohlen wurde. Die Schwestern hatten sich dabei die ganze Zeit über wieder angeschwiegen. Sie wussten schlichtweg einfach nicht, was sie hätten sagen können. Die bedrückende Atmosphäre kam auch daher, dass das Heim der Steintrolle immer näher rückte und dadurch auch die Frage, ob ihre Stieftante denn tatsächlich noch leben könnte.
Sie wäre die letzte Chance auf ein bisschen mehr Verwandtschaft, von Rapunzel abgesehen, die mussten sie schließlich ergreifen. Auch wenn sie sich selbst nun zugaben, dass es sie nervös machte.
Sie hatten keine Ahnung, ob die Angst ihrer Mutter gegenüber ihrer Stieftante gerechtfertigt war und wenn dies so wäre, würden sie einen gigantischen Fehler begehen, wenn sie diese wirklich befreien. Die Gedanken ließen sie nicht los, doch sie wussten, sie würden sich der Situation stellen müssen, denn sie wollten unbedingt – um jeden Preis – die Wahrheit erfahren.
„Ich glaube...", begann Anna nach einiger Zeit, als das Gras unter den Hufen der Pferde wich und diese auf Stein trabten, „Wir sind bald da." Die letzten Bäume ließen die beiden Frauen hinter sich und nun kreuzten auch schon riesige Felsbrocken ihren Weg. Keiner davon war ein Troll, zumindest vermuteten sie das, aber sie waren ganz in der Nähe vom Mittelpunkt des Steinbruchs. „Hast du dir schon überlegt, wie wir das Gespräch am besten anfangen?", fragte die Rothaarige ihre Schwester.
„Offen gestanden, nein. Bestimmt fällt uns aber etwas ein, dir doch sowieso immer, Anna. Ich beneide dich wirklich darum, dass du mit allen so gut auskommst. Und dass alle dich mögen. Manchmal habe ich einfach das Gefühl, dass ich fehl am Platz bin; dass du die bessere Königin von uns beiden sein würdest..."
„Oh, Elsa, das ist doch nicht wahr! Ich könnte es nie und nimmer mit dir aufnehmen. Du bist eine tolle Königin. In Wahrheit frage ich mich ja, wie du das alles so super unter einen Hut bekommst, ohne dass 'was schiefgeht...", warf Anna ein und schenkte der Blonden einen gutmütigen Blick, „Ich dagegen wäre eine schreckliche Königin. Ich wüsste noch nicht mal, was der Unterschied zwischen arm und reich wäre. Für mich sind alle bloß gleich. Mit denselben Chancen, Wünschen, Hoffnungen und Träumen."
„Und genau deshalb wärst du eine viel bessere Königin, als ich es bin...", gestand Elsa, „Eines Tages wirst du und Kristoff dieses Königreich führen und ich bin mir sicher, ihr werdet das großartig tun."
Anna schaute ihre Schwester ungläubig an, doch dann siegte die Rührung. „Danke, aber du machst es auch gut, glaub mir!"
„Na, da bin ich aber froh?!", kicherte die ältere der Schwestern, wobei die Jüngere ihr erstaunt zu zwinkerte.
„Siehst du, du kannst doch Sarkasmus!"
„Das war aber ernst gemeint, Anna."
„Oh!"
Die beiden Frauen lachten. Und für diesen Augenblick vergaßen sie, wo sie waren und was sie vorhatten. Es zählte nur der Moment, in dem sie einander wieder so nah waren, wie sie es einst gewesen.
Als sie sich beruhigten, bemerkten sie erst, dass ihre Pferde gerade vor dem Steinbruch hielten und sie in die kleine Rundung hinunterschauten, in die man mithilfe von kleinen Stufen, die in die Felsen unter ihren Füßen gemeißelt wurden, hinabsteigen konnte.
Also stiegen die Schwestern von ihren Pferden und banden den weißen Schimmel und die braun gefleckte Stute um einen dicken Felsen, von dem sie hofften, dass es keiner der Trolle war. Wie sich herausstellte, war es aber einer. Der erhob sich nun vor ihnen und lächelte sie an. „Na, ihr beiden! Wir hätten nicht gedacht, euch so schnell wieder zu sehen." Der Troll war einer derjenigen, der sie auch nach Corona begleitet hatte. „Falls ihr meinen Namen vergessen haben solltet, ich wiederhole ihn gerne nochmal: Ich bin Junk. Ihr wollt sicher zu Grand Pappy, nicht wahr? Ich hole ihn schnell." Die violetten Augen des Trolls leuchteten hell auf, doch dann deutete er auf einen anderen Felsbrocken, „Der da ist echt. Da könnt ihr eure Pferde anbinden."
Damit rollte er weg und ließ die Frauen alleine zurück. Diese guckten sich nur etwas irritiert an und zuckten dann mit den Schultern, als wäre ein sprechender Stein das Normalste der Welt.
Die Schwestern befolgten jedoch den Rat von Junk und banden die Pferde an den gesagten Stein. Dann gingen sie langsam in die Mitte des Steinbruchs, der in einem Kreis verlief. Und schon bald umringten die beiden eine ganze Menge an Steintrollen, die sie anhimmelten und vergnügt zu sein schienen. „Wir freuen uns auch, euch zu sehen!", versicherte Anna kichernd und schaute zu Elsa hinüber, die ebenfalls einmal ein Grinsen auf dem Gesicht trug. Eine rundliche Trollfrau, mit pinken Kristallen auf dem Rücken, stach dabei genauso in ihr Sichtfeld und sie rannte auf diese zu und schlang ihre Arme um sie.
„Gustine!", schloss Anna dankend, was die rundliche Trollin nur erwiderte. „Mein süße Anna, was führt euch denn hier her? Und wo ist mein lieber Kristoff?", fragte die Trollin neugierig. „Oh, weißt du, das ist schwer zu erklären. Hm, obwohl so schwer ist es doch nicht! Kristoff ist für circa zwei Tage nochmal in die Berge, um den anderen Eisverkäufern zu helfen. Und Elsa und ich haben etwas Unglaubliches..." – Die Rothaarige musste nun doch schlucken, als sie Junk und Grand Pappy durch die Menge der umstehenden Steintrolle auf sie zugehen sah –, „...herausgefunden."
„Herausgefunden? Was denn?", fragte Gustine seltsam ernst. Anna fühlte sich unter dem bohrenden Blick ihrer Trollfreundin gar nicht wohl, was für sie sehr ungewohnt war. „Nun, äh... Das ist..."
„Kompliziert?", half Elsa ihrer Schwester. „Ja, genau. Du sagst es, Elsa!", murmelte die Rothaarige dankbar und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Doch diese Erleichterung verflog sofort, als Grand Pappy sie ansprach: „Um ehrlich zu sein, würde mich das aber ebenfalls interessieren, was ihr herausgefunden habt? Oh, wie schön, Elsa ist diesmal auch mit dabei." Die Blonde lächelte verlegen und machte eine kurze Wink-Bewegung.
„Also, sagt schon! Was habt ihr denn so Aufregendes entdeckt, dass ihr damit zu mir kommt?", nahm der alte Trollvater den Faden wieder auf. Die beiden Schwestern sahen sich daraufhin ein wenig zweifelnd an, nickten sich nach einiger Zeit jedoch gegenseitig, wie zur Bestätigung, dass es in Ordnung sei, zu.
„Wir haben ein Buch gefunden und dieses gehörte...", Anna brach ab und schaute nochmals zu Elsa hinüber, doch als diese bloß zustimmend nickte, fuhr sie fort, „Es gehörte unserer Mutter. Es war ihr Tagebuch. Sie hat es von... ihrer Schwester bekommen. Amelia." Die Rothaarige machte eine Pause und wartete ab, ob von dem alten Steintroll eine Reaktion kam. Als jedoch keine kam, sprach sie weiter: „Wir haben es gelesen. Also das Buch. Uns war zwar erst nicht wohl bei diesem Gedanken, weil es ja Mutters Tagebuch gewesen ist und somit schließlich privat, aber wir haben so viel erfahren, dass wir so nie erfahren hätten, dass wir es eben trotzdem getan haben. Und wir haben es nicht bereut. Zumindest denken wir das." Sie holte noch einmal tief Luft, um vielleicht nun eine Reaktion von Grand Pappy zu erwarten, aber als immer noch keine kam, gab sie das Wort mit einem Kopfnicken an ihre Schwester ab.
„Nun denn...", begann Elsa damit, „Wir haben folglich erfahren, dass wir eine Tante haben, oder eher hatten, und ebenso auch eine Stieftante, die möglicherweise sogar noch lebt. Letzteres wurde von unserem Vater in einem Brief nochmal bestätigt."
Anna meldete sich, um etwas hinzuzufügen und die Blonde gab ihr das Wort zurück. „Und nicht zu vergessen, ist Rapunzel somit unsere Cousine. Ihr müsstet sie kennen, denn sie ist die junge Frau mit den meterlangen, blonden Haaren, die ihr vor einer Woche kennenlernen durftet, weil sie von einem Eisblitz getroffen wurde, der glücklicherweise noch entfernt werden konnte. Und auch in Corona, was ihre Heimat ist, genauso wie von unserer Mutter, habt ihr sie getroffen." Als die umstehenden Trolle mit den Augen klimperten und auch Grand Pappy ruhig nickte, verschränkte die Rothaarige genugtuend die Arme vor der Brust. Das sollte wohl so viel heißen, wie ‚Ich übergebe dir wieder das Wort, Elsa'.
„Nun, unser Vater hat in dem Brief ebenfalls davon geschrieben, dass unsere Stieftante, Serafina, in einer Art Büxe gefangen sein soll, in die unsere Mutter sie eingesperrt hat, weil sie sich vor ihr fürchtete. Er schrieb auch, dass sie diese an euch – vielmehr wahrscheinlich an dich, Grand Pappy – weitergegeben hat. Jetzt fragen wir uns natürlich, ob du diese Büxe noch besitzt? Und wenn ja, ob Serafina noch leben könnte?", erklärte die Blonde sachlich und klar, wobei sie sich desöfteren ein paar Mal unsicher auf die Unterlippe gebissen hatte.
Nun stand die Frage der Fragen also im Raum. Die Frage, auf die sie eine Antwort wollten und weswegen sie überhaupt hergekommen waren.
Doch dann stellte Elsa noch eine Frage, an die sie vorerst gar nicht gedacht hatten. „Hat diese ganze Situation – mit Serafina, ihren Kräften, die meinen ähneln sollen, und die Tatsache, dass unsere Mutter sie in diese Büxe gesperrt hat – etwas mit dem großen Krieg zu tun, der zwischen Arendelle und Corona getobt hat?" Sie pfiff einen tiefen Seufzer zwischen ihren zusammengepressten, schmalen Lippen hervor, als es gesagt war.
Und nun kam endlich das erlösende Zeichen von Grand Pappy. Ein leichtes, kaum merkbares Nicken. „Ja...", murmelte der alte Troll zustimmend, „In gewisser Weise. Es ist mehr ein Auslöser dafür, dass Amelia ihrer kleinen Schwester nicht mehr vertraut hat. Ihr müsst wissen, ich kannte eure Mutter und ihre Schwestern gut. Vielleicht nicht gut genug, aber sie haben oft hier bei uns ihre Zeit verbracht. Damals war es auch noch kein Ort, den die meisten Leute lieber gemieden haben – es sei denn natürlich, es ging nicht anders –, aber wie es die Zeit so will, bleibt nun einmal nichts wie es ist." Er machte eine Pause, um jeweils eine Hand der beiden Schwestern zu ergreifen. Dann lächelte er sie mitleidig an: „Und so kam diese Zeit auch bei eurer Mutter und ihren Schwestern. Serafina war die älteste der Drei, Amelia die mittlere und eure Mutter, Leah, die jüngste. Da eure und, ich gehe davon aus, Rapunzels Mutter jedoch von Geburt an Schwestern waren und Serafina erst recht spät dazu kam, konnten sie nie so ein wirkliches Band zu ihr aufbauen. Das wurde auch nicht besser, als diese sich immer weiter von ihnen entfernte, weil ihre Kräfte, die tatsächlich deinen, Elsa, sehr ähnlich sind, stärker wurden. Und um ihre Schwestern nicht zu verletzen, verbarg sich Serafina im Schloss."
„Hm, das kommt mir irgendwie bekannt vor!", warf Anna seltsam gefasst ein und grinste ihre Schwester an. Diese wiederum reckte bloß ihr Kinn in die Höhe und bat den alten Steintroll gleich darauf fortzufahren. „Wie dem auch sei, wo war ich stehengeblieben? Ah, ach ja!", machte Grand Pappy und fuhr damit fort, „Amelia war sehr mitgenommen deshalb und wollte Serafina helfen. Und eines Tages passierte dann dieser Unfall." Er schüttelte sich, wobei die Kristalle auf seinem Rücken zu flackern begannen. „Sie traf Amelia mit ihren Kräften bei einem erneuten Besuch am Bauch und so wie es aussah, war sie zu diesem Zeitpunkt schwanger gewesen. Ihr Verlobter und eure Mutter kamen zu mir, damit ich sie retten würde, aber ich konnte Amelia nicht helfen. Sie wurde demnach krank. Sehr krank. Ihre Zeit lief also ab. Deshalb kehrte Ihr Verlobter, Prinz Alan, mit ihr zurück nach Corona. Eure Mutter dagegen blieb hier in Arendelle. Und aus ihrer Trauer über ihre Schwester begann sie ihre Halbschwester zu fürchten. Deshalb schloss sie Serafina in die Büchse der Pandora ein, damit sie niemanden mehr Schaden zufügen konnte.", schloss Grand Pappy ab.
Diesmal war es jedoch Anna, die sich schüttelte. „Warte, was? Die Büchse der Pandora, ehrlich, die gibt es wirklich?", fragte die Rothaarige ungläubig, „Ich habe von der nur in Büchern gelesen. In ihr soll sich Krankheit, Hass und Neid befunden haben, die über die Menschen hergefallen sind, als sie das erste Mal geöffnet wurde. Zurück blieb dann als einziges die Hoffnung, die Pandora den Menschen schließlich noch als Geschenk machte, wenn ich mich zumindest nicht irre."
Der alte Steintroll schmunzelte. „Nun ja, ganz so ist es wahrscheinlich nicht abgelaufen. Allerdings bin ich mir selbst nicht sicher, woher eure Mutter überhaupt diese Büchse bekam. Das hatte sie mir nie erzählt. Auch nicht, als sie mir diese mit Serafina darin brachte." Grand Pappy überlegte kurz, doch dann kramte er ein kleines, schwarzes Kästchen unter seinem Mantel aus Moos hervor, „Dies hier ist sie!"
Die beiden Schwestern beäugten die merkwürdige, viereckige Büchse interessiert, die oberhalb ein rotes Juwel eingesetzt hatte. Es war wirklich ein seltsames Gefängnis, obwohl ihnen dann der Gedanke kam, dass es für Leute mit gefährlichen, magischen Fähigkeiten wahrscheinlich genau das richtige war. Wenn Serafina denn überhaupt gefährlich sein würde?
„Und...", fing Anna die Frage an, die wohl auch Elsa im Kopf herumspuckte, „Lebt unsere Stieftante noch?"
„Warum sollte sie nicht?", kam die Gegenfrage des Steintrolls, „Sie ist darin eingesperrt. Und dort drin herrscht weder Zeit noch Raum, also vermutlich ist sie nicht einmal gealtert."
„Und wie alt ist sie dann?", fragte Anna neugierig und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Grand Pappy erwiderte es nur freundlich: „Keine Sorge, nicht jünger als ihr. Sie ist die älteste der drei Schwestern, demnach höchstwahrscheinlich in den Dreißigern."
„Puh!", blies die Rothaarige Atem aus, doch dabei zog Elsa eine Augenbraue deutlich hoch, „Äh, ich meine, was für ein Glück für sie, dann hat sie wenigstens keines ihrer Jahre vergeudet?" Die Blonde nickte. Und auch der alte Trollvater sagte nur bestätigend: „Ja, da hast du wohl Recht, Anna! Das Beste ist vielleicht sogar, dass ihr sie so noch kennenlernen könnt und in den Genuss von etwas Familie kommt. Das habt ihr, wie auch Rapunzel, mehr als verdient."
„Woher weißt du von Rapunzels Vergangenheit?", fragte Anna ihn. „Oh, das hab' ich in den Gedanken ihres Mannes gelesen, als er so unglücklich darüber war, sie beinahe verloren zu haben.", erklärte der Troll und die Rothaarige nickte verstehend. Dann schmunzelte sie.
„Eugene! Das halte ich ihm auf jeden Fall vor, wenn wir für seine und Rapunzels Krönung nach Corona reisen." Sie stieß ihrer Schwester mit dem linken Ellbogen in die Seite, „Was meinst du, Elsa?" Die Blonde verschluckte sich dabei fast an ihrer eigenen Spucke, ehe sie schließlich antwortete: „Ja, tu' das ruhig!"
Elsa schluckte schwer und wies dann auf die Büchse in der kleinen Steinhand des alten Trolls, „Aber jetzt schlage ich vor, wir befreien erst einmal unsere Stieftante. Sie ist doch bestimmt viel zu lange schon darin eingesperrt. Und niemand sollte eingesperrt sein – Oder sich gar so fühlen."
„In der Tat!", schloss Grand Pappy zufrieden lächelnd und stellte gleich darauf das schwarze Kästchen in der Mitte des Steinbruchs auf dem Boden ab, „Tretet am besten ein paar Schritte zurück!"
Die Schwestern befolgten seinen Rat und damit zog der alte Steintroll den roten Juwel an der oberen Seite ein Stück heraus, sodass es eine stille Explosion gab. Gefolgt von dunstigem Nebel und weißem Rauch, erkannten die Schwestern, Grand Pappy und all' die umstehenden Trolle um sie herum, wie sich ein schlanker, großer Schatten in die undurchschaubare, neblige Masse schlich.
Nach einer Weile bemerkten sie, wie sich die weiblichen Proportionen einer Frau herausmanövrierten, die von einem schneeweißen, gestickten Stoff eingehüllt wurden. Als erstes sahen sie die kurze Schleppe des Kleides, das Serafina trug. Dann bekamen sie immer mehr Details des Kleides mit, je weiter sich der Nebel lichtete, und das war eine ganze Menge, denn das weiße Kleid war buchstäblich mit winzigen, schlichten Schneeflocken bestickt, selbst die langen Schlagärmel, in denen ihre Arme steckten, die sie dicht an den Oberkörper gezogen hatte. Über ihrem üppigen Dekolleté hing eine Kette mit einer Schneeflocke aus...
„Da ist Eis!", stellte Anna erstaunt fest, „Ihre Kette ist aus purem Eis. Elsa, vielleicht hat sie wirklich dieselben Kräfte wie du? Stell' dir nur vor, dann wärst du endlich nicht mehr die Einzige mit besonderen Fähigkeiten, sondern hättest eine Gleichgesinnte, mit der du üben könntest!" So sehr der Gedanke die Rothaarigen auch lockte, Elsa gab sich der vagen Hoffnung nicht hin und starrte bloß nun gebannt auf die Gestalt, dessen eisblaue Augen gerade den Nebel lichteten.
„Wow!", stieß Anna bewundernd aus, während sie die geradezu unnatürlich schöne Frau musterte, deren weißblondes Haar sich aus ihrer Hochsteckfrisur langsam löste. Ihre Stieftante sah Elsa wirklich sehr ähnlich, nicht nur von ihren Kräften, sondern vom gesamten Wesen. Nur am Alter konnte man die beiden unterscheiden, da hatte Grand Pappy insofern Recht behalten, denn im Ausschnitt oder auch im Gesicht der Frau prangten kleine Fältchen, die sie aber nur noch realistischer wirken ließen.
Deshalb wussten die beiden Schwestern nun mit Sicherheit, dass sie, und auch Rapunzel, noch ein kleines Stück Familie besaßen und das gab ihnen Mut und Kraft. Und selbstverständlich Hoffnung.
„W-Wer seid ihr?", riss die raue Stimme der blonden Frau sie aus den Gedanken. Doch keine der Schwestern schaffte es zu antworten, demnach ergriff der alte Trollvater das Wort. „Hallo, Serafina!", schritt er vor und zeigte sich ihr. Ein sanftes, gutmütiges Lächeln umspielte dabei seine Lippen. „Lange nicht gesehen." Die Frau wich erschrocken zurück. „Komm nicht näher! Ich will keinen verletzen. Nicht dich und auch niemanden sonst. Meine Kräfte sind unkontrollierbar...", schrie Serafina verzweifelt, weshalb Grand Pappy sie zu beruhigen versuchte und ihr erklärte, dass ihre Ängste nicht wahr werden, solange sie sich nicht in sie reinsteigerte.
„Jap, erinnert mich total an jemanden, den ich kenne!", zischte Anna ihrer Schwester entgegen, wobei sie ihr mit dem Ellbogen erneut in die Seite stieß, „Na, was meinst du, Elsa, dich auch?"
„Ich weiß gar nicht, wovon du redest!", ignorierte die Blonde ihre kleine Schwester gekonnt, auch wenn sie genau wusste, von was sie sprach, denn sie hatte sich selbst gerade in ihrer Tante gesehen, wie sie noch vor nicht mal zwei Wochen gewesen war.
„Lügnerin!", riss Anna sie aus ihren Gedanken und schmunzelte leise.
Wenig später stimmte Elsa schließlich darin ein. „Ja, du hast ja so Recht, Anna!"
„Was sag' ich denn hier die ganze Zeit...!"
Es verging eine ganze Weile, in der die Schwestern nur still dem Geschehen zugesehen hatten, das daraus bestand, wie der Trollvater ihre Stieftante zurück auf den Boden der Tatsachen brachte.
„W-Wie b-bitte?", fragte sie nun noch einmal irritiert, „Leah ist tot. Und Amelia auch. Und Alan und Walt. Alle tot." Serafina keuchte auf, ihr Atem ging schneller und schneller, bis sie Grand Pappys bedauernde Stimme vernahm. „Ja, leider..."
„Sind sie... durch meine Hand gestorben?"
„Nein, das wirklich nicht!"
„Wie dann?", fragte die blonde Frau nun erstaunlich gefasst, „Ich will es wissen. Wie?"
Der alte Steintroll ließ ein lautes Seufzen vernehmen, ehe er letztlich zu sprechen begann: „Na gut!" Er überlegte kurz, wie er beginnen sollte, aber dann sprach er einfach drauf los, „Über Alans und Amelias Tod weiß ich nichts Genaues. Nur, dass sie nicht mal vor mehr als einer Woche verstorben sind. Gar nicht auszudenken, wie sich ihre Tochter nun fühlen mag." Grand Pappy machte eine Pause, um zu sehen, wie die Worte auf Serafina wirkten. Aber als sie sie erstaunlich gut aufnahm, fuhr er fort: „Im Gegensatz zu ihrer Schwester starb Leah bei dem Versuch zu ihr nach Corona zu reisen. Gemeinsam mit ihren Mann Walt verunglückte sie auf See. Das ist jetzt drei Jahre her. Ihre beiden Töchter, Elsa und Anna, haben von dir erfahren. Und sie wollten dich aus der Büchse befreien, aus der dich Leah längst hätte befreien sollen." Der Troll wies mit seinen müden Augen auf die Schwestern hinter ihm, „Das sind sie, deine Nichten!"
Anna nahm ihre große Schwester bei der Hand und gemeinsam gingen sie auf ihre Stieftante zu. Mitleidig und sanft und ebenso gutmütig lächelten sie sie an. „Hey!", brach die Rothaarige, die aus der Runde ganz klar herausstach, das Schweigen der Blondinen. „Hey...?", murmelte Serafina ungewohnt ruhig, „Ihr seid also meine Nichten, so? Ich kann mich zwar nur noch daran erinnern, wie mich eure Mutter in die Büchse sperrte, aber es scheint in dieser geraumen Zeit eine ganze Menge passiert zu sein. Nun, das Wichtigste hat mir Grand Pappy ja gerade erzählt. Würdet ihr mir deshalb den Rest erklären, der in eurem Leben passiert ist?" Bei den letzten Worten schlich sich ein leises Schmunzeln in ihre Stimme. Zögerlich nahm sie jeweils eine Hand von jeder ihrer Nichten und zog sie in eine familiäre Umarmung, die alle drei gleichermaßen genießten.
Das freute das Oberhaupt der Steintrolle ungemein, sodass dieser unwiderruflich grinsen musste. „Wieso...", begann er schließlich, „...bringt ihr Serafina nicht ins Schloss? Ich denke, da ist es für euch wesentlich bequemer zum Kennenlernen und gegenseitigem Beschnuppern. Ich wünsche euch, dass diesmal alles gut geht. Und Serafina, helfe deiner Nichte, Elsa, der aktuellen Regentin von Arendelle, doch beim Regieren? Im Gegenzug wird sie dir sicher mit deinen Kräften helfen."
Die Schwestern und auch Serafina schauten den alten Troll verwundert an, bis dieser letztendlich bloß noch einmal nickte und lachend mit seiner kleinen Steinhand abwedelte. Daraufhin fielen die Drei ebenso ins Lachen ein und auch hier und da war in den Reihen der umstehenden Steintrolle vereinzeltes, glückliches Glucksen zu hören. „Na gut, abgemacht!", rief Serafina laut aus und schlang einen Arm um Elsa, die ein wenig überrascht zusammenzuckte, aber zufrieden lächelte. Genauso wie ihre rothaarige Schwester, um die ihre Stieftante nun ihren anderen Arm schlang. Und so fühlten sich die beiden Schwestern mit Serafina zum ersten Mal wieder wie eine richtige Familie. Sicher, vorher waren sie auch eine Familie gewesen, aber sie bestand eben nur aus ihnen beiden. Sie war bis dahin klein und kaputt, doch nun erlebten sie endlich einmal einen Lichtblick, der, wie sie hofften, lange andauern würde.
So verabschiedeten sie sich also von Grand Pappy und seinen Steintrollen und begaben sich zurück zu den Pferden, die sie an zwei große, wie Junk sagen würde ‚Echte', Felsen gebunden hatten.
„Ich schlage vor, da deine Stute kleiner ist, dass ich diese diesmal nehme und du meinen Schimmel mit Serafina nimmst, Elsa!", bestimmte Anna rasch. Und ohne, dass eine der anderen, beiden Frauen etwas einwenden konnte, stieg sie in den Sattel der braun gefleckten Stute. Sie straffte kurz ihr gelbes Sommerkleid, ehe sie ihrer Stieftante und ihrer Schwester zu rief: „Na, braucht ihr 'ne extra Einladung?" Die Stute wollte schon losreiten, doch Anna hielt sie an den Zügeln noch rasch zurück, „Macht schon, steigt auf! Wir wollen doch sicher zum Abend längst im Schloss sein, oder?"
„Natürlich!", antworteten Elsa und Serafina wie aus einem Mund.
Dann stiegen sie nacheinander auf den weißen Schimmel, den vorerst Anna geritten war. Serafina saß vorne und Elsa klammerte sich hinter ihr an ihren Rücken. Dabei bemerkte Anna die nackten Füße ihrer Stieftante und war augenblicklich verwundert, wenn auch nicht sonderlich überrascht.
Gleich darauf trieben die drei jedoch auch schon ihre Pferde an, sodass keine Zeit mehr zum Nachdenken blieb. Und so ritten sie als wiedervereinte, wenn auch nicht komplette, Familie zurück. Zur Hauptstadt und zum Schloss von Arendelle, ihrem Zuhause.
„Ts, also wenn ihr beiden nicht verwandt seid, weiß ich auch nicht weiter?!", murmelte Anna fast ein wenig eifersüchtig, während sie Elsa und ihre Stieftante betrachtete, die vor ihr in einem gewissen Abstand ritten. Die Sonne am Himmel neben ihnen wanderte schon langsam Richtung Westen. Sie würde bald untergehen.

Frozen & Tangled II: Unforeseen ObstaclesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt