Kapitel 14: „Von der Heimat verlassen"

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Gold und rot waren die Flammen, die im Dorf von Lumen gewütet hatten. Sie brannten alles nieder, brachten jede noch so kleine Hütte zum Einsturz und rotteten alles Leben aus.
Wirklich alles jedoch nicht ganz. Während Eugenes alte Kindheitsfreundin, Nara, mitansehen musste, wie ihr Vater ihrer Mutter helfen wollte, die unter einem abgestürzten Dach lag, wurde er bereits unter der nächsten Ladung davon begraben. Nichts als Schutt und Asche hatte ihre beiden Elternteile getötet, und das in einem Bruchteil von zwei Minuten. Sie hatte nur Glück, dass Evan sie rechtzeitig aus dem Schatten eines anderen Hauses gezogen hatte, denn sonst hätte sie beide wohlmöglich das gleiche Schicksal ereilt.
Auf ihrer Flucht begegneten sie der rothaarigen Jules, die ihren Adoptivvater, den alten Bäcker, ebenfalls in dem Chaos verloren, das das Feuer verursacht, hatte. Ob er noch lebte, wusste sie zu dem Zeitpunkt nicht, aber als die drei, und Jules kleine Elfe, Eshinoya, es schafften sich zum Rand des Waldes durchzukämpfen, sahen sie das Ausmaß des zerstörerischen Befehls. Sie waren alles, was von Lumen noch übrig geblieben war. Dadurch konnte sich Jules die Frage leicht beantworten, auch Quentin war in den Flammen gestorben.

Nach zwei Tagen, die die drei Überlebenden von Lumen und die kleine Elfe, schon im Wald verbracht hatten, wurden sie verzweifelt. Wohin sollten sie gehen? Konnten sie wirklich den Worten des königlichen Beraters trauen und es in der Hauptstadt Coronas versuchen? Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Und genau das war ein Problem, dem sie vorerst aus dem Weg gegangen waren, indem sie solange es ging, im Wald gelebt hatten. Aber sie gestanden sich ein, dass es so nicht weitergehen konnte.
Deshalb schlug Jules Elfe am Beginn des dritten Tages, als sie alle zusammen wieder einmal um ein knisterndes Lagerfeuer herum saßen, vor, sie sollten den Eingang zur Welt der Elfen suchen; ihrer Welt.
„Dort finden wir bestimmt Hilfe. Wir Elfen würden niemals jemanden verschmähen, der Hilfe braucht. Ganz besonders nicht, wenn ihr so freundlich fragen würdet.", erklärte die Violetthaarige nach einer Weile, in der die anderen drei sich stumm gemustert hatten. In Jules Fall war es jedoch gleichzeitig ihre einzige Kommunikation, zu der sie fähig war.
„Vertraut mir!", begann Eshinoya erneut, „Sie werden euch nichts tun, ich bin ja dabei. Und außerdem könnt ihr sagen, dass ihr nur solange bleiben wollt, bis ihr wisst, wohin die Reise als nächstes geht. Also, wenn es hochkommt, maximal eine Woche, nicht?" Die Elfe grinste und zwirbelte ihren einen Zopf um ihren kleinen Finger, während sie sich auf der Schulter ihrer rothaarigen Freundin auf den Bauch rollte.
Nara, deren Kopf bis gerade eben gegen Evans Schulter gelehnt hatte, richtete sich auf. „Nein. Nein, da will ich nicht hin. Die sind doch der Grund, warum ich alles verloren habe!"
Evans Finger fuhren ihr durch die Haare, um sie zu beruhigen. „Wo willst du dann hin?", fragte er sanft. Seine Stimme sollte einen ruhigen, beschwichtigenden Tonfall haben.
„Zu Eugene. Ins Schloss! Er muss etwas tun, er kann, er kann...", doch da sprang Jule auf und wedelte hastig mit den Armen. Sie versuchte sich wohl so zu behelfen, wie sie es mit ihrer Stimme nicht konnte. Aber letztlich waren Nara und Evan danach so schlau wie vorher.
Daraufhin stürmte Noya dazwischen und seufzte, während sie ihren Kopf tapfer erhob, hörbar auf. „Sie meint, dass der künftige König sicherlich schon genug zu tun hat, mit diesem... Äh, was?" Die Elfe drehte sich fragend zu ihrer Freundin herum und diese gestikulierte dabei mit ihren Händen einen gewissen, schwarzhaarigen Mann, dem sie bereits in der Bäckerei ihres Adoptivvaters begegnet war, als diese noch nicht dem Erdboden gleich gemacht wurde.
„Ja, genau! Er hat schon genug zu tun, mit diesem komischen Berater, oder so."
Ihre rothaarige Freundin sah sie entnervt an. „Was?!", doch Jule verdrehte auf den desinteressierten Kommentar nur die Augen und verzog den Mund zu einem Stöhnen.
Plötzlich spürte die Rothaarige jedoch etwas, das gegen ihren Rücken gedonnert war, und als sie sich herum drehte, sah sie eine kleine, grünhaarige Elfe im Gras sitzen und sich den Kopf reiben.
Wie kam die denn hier her, frage Jule sich und hockte sich zu der Kleinen hinunter, um sie freundlich anzulächeln. Dabei bemerkte auch Eshinoya ihre Artgenossin und flog so rasch zu dieser, dass ihre Freundin beinahe zurückwich. „Hallo!", rief sie aus und landete vor der anderen Schutzelfe, „Du bist bestimmt auch auf dem Weg zum Portalübergang, nicht? Ich bin Noya und du bist...?" Die Violetthaarige streckte sogleich der Grünhaarigen die Hand zu einem Wink entgegen. Die Angesprochene brauchte eine ganze Weile, bis sie sich soweit gesammelt hatte, dass sie es schaffte, aufzusehen. Und als sie es dann tat, erschrak sie nicht schlecht. Sie schrie auf und rückte ein Stück zurück. „Wer – was – du – du bist eine Elfe!", stammelte sie, noch immer ziemlich fassungslos, „Ich bin nicht... zufällig... schon im Elfendorf?"
„Nein, bist du nicht. Aber zufälligerweise – rein zufällig, versteht sich natürlich – wollten wir auch gerade dorthin aufbrechen.", klärte Noya die Grünhaarige auf, wohingegen Nara und Evan ihr verwunderte Blicke schenkten und sich fragten, wen sie wohl mit ‚wir' meinte. Doch nicht etwa sie, oder?
„Oh, das ist klasse! Denn...", die Grünhaarige drehte sich einmal um die eigene Achse, „Ich glaube, ich habe mich mächtig verlaufen."
So wie die anderen, zuckte die Elfe zusammen, als Nara plötzlich abschätzig zu lachen anfing. „Woah, woah, woah. Ich gehe nirgendwohin! Wenn schon, gehe ich zum Schloss. Da kenne ich jemanden und ich weiß, dass mich da niemand abschieben wird. Außerdem sollte der König wissen, was mit seinem Heimatdorf passiert ist."
„Gut, dann geht doch zur Hauptstadt, Jules und ich werden auf jeden Fall mit...", sie warf der Grünhaarigen einen Blick zu und als diese ihren Namen schließlich preisgab, fügte sie ihn ihrer Rede bei, „...mit Diantha zum Elfendorf ziehen!" Doch da wurde Jule aufmerksam und gestikulierte stark.
„Wie? Sie ist die Schutzelfe der Königin? Ach, der künftigen. Bist du sicher?", als die rothaarige Stumme nickte, nickte auch Noya bestätigend. „Dann kannst du uns ja auch sagen, was im Schloss gerade abgeht, stimmt's?", wandte sich die Violetthaarige wieder an Diantha.
„Die Königin... M-Meiner Herrin geht es nicht gut...", erklärte die Grünhaarige unsicher, „Ich dachte, im Elfendorf könnte ich mir etwas Hilfe holen. Du weißt doch, Magie und so." Ihr Blick wanderte zu den drei Menschen, die sie interessiert musterten. „Du kennst Eugene?", fragte sie schließlich, an Nara gewandt. Diese nickte, ein wenig verunsichert.
Dianthas Blick wanderte zwischen Nara und Evan hin und her, bis sie schließlich sagte: „Vielleicht hat – Noya? – Recht. Ihr solltet zum Schloss gehen, ich glaube, Eugene sollte es wirklich wissen."
„Okay, dann können wir ja los!", rief Noya schließlich aus. Sie flog voraus und winkte Diantha zu sich, dann folgte noch ein kleiner Wink zu ihrer rothaarigen Freundin. „Kommst du, Juliette!", doch als sie sich bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte, korrigierte sie sich noch einmal, „Äh, Jule. Ich meinte natürlich: Komm, Jule!" Aber womit die Elfe nicht rechnete, war, dass die Rothaarige sich nicht in ihre Richtung in Bewegung setzte, sondern zu Nara und Evan ging.
„Wie? Du willst doch nicht wirklich in die Hauptstadt, oder?", doch Jule verschränkte bloß entschlossen ihre Arme vor der kleinen Brust, was bei ihrer ebenso kleinen Körpergröße nicht gerade eindrucksvoller wirkte. Mit den Lippen formte sie stumm einen Namen, den die Elfe noch sehr wohl gut in Erinnerung hatte. Deshalb stöhnte Noya nur etwas zu laut auf. „Schön, dann geh' doch mit ihnen, werden ja sehen, wie weit du kommst, nur weil du diesem Laufburschen doch noch hinterherrennst?!"
Ein flehentlicher Blick von Jule brachte sie jedoch zum Schweigen. „Bitte, dann komme ich eben danach wieder zu dir, wenn ich mit Diantha in unserem Dorf war. Bist du damit zufrieden?", fragte Eshinoya, fast ein wenig genervt, doch als ihre rothaarige Freundin dankbar nickte, lächelte schließlich auch sie.
Ja, man konnte sagen, was man wollte, Noya lag ihrem Schützling wohl so am Herzen, wie sie ihr. Und genauso wie Rapunzel Diantha am Herzen lag, und umgekehrt. Das war nun einmal das unsichtbare, magische Band zwischen einer Schutzelfe und ihrem Menschen, das letztendlich nur die Zeit festigen konnte, die sie miteinander verbrachten, sowie auch bei allen gewöhnlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen.
Also machten sich Nara, Jule und Evan zusammen auf in Richtung Hauptstadt, wohingegen Noya und Diantha den Weg zum Elfendorf einschlugen.
Da beide allerdings schon seit einiger Zeit nicht mehr da gewesen waren, dauerte es einige Zeit, bis sie überhaupt rausgefunden hatten, in welche Richtung sie gehen – oder besser fliegen – mussten.
„Sag' mal...", schnitt Dianthas Stimme nach einiger Weile durch den Flugwind, „Gibt es unseren herzallerlieben Prinzen eigentlich immer noch?"
„Ich wüsste nicht, warum es ihn nicht mehr geben könnte...", gab die Violetthaarige ein wenig ratlos zu, „Aber etwas Genaues kann ich leider auch nicht sagen. Du glaubst doch nicht, dass sich auch dort Veränderung getan hat, oder?" Die Angst in Noyas Stimme war nun deutlich, durch das leise Zittern darin. Sie fürchtete, dass es ihr Zuhause eventuell nicht mehr geben könnte.
Immerhin hatte sie ja erst vor kurzem mit angesehen, wie es zweien durch eine Naturgewalt – oder auch durch rohe Gewalt, wer weiß das schon – genommen wurde.
Doch Diantha fing nur an, lauthals zu lachen. „Um ehrlich zu sein, ich will unseren ach-so-tollen Majestäten lieber nicht über den Weg laufen. Ich glaube, die könnten immer noch einen ganz schönen Hals auf mich haben." Noch immer kichernd hielt sie vor einem gewaltigen Baum, dessen Stamm fast so breit war, wie ein ganzes Haus. Er war so hoch, dass man seine Baumkrone nur erahnen konnte. Zumindest aus der Position der beiden Schutzelfen.
„So... weißt du noch, wie man da reinkommt?"
„Na klar!", meinte Noya stolz.
Langsam ging die Violetthaarige auf den Stamm zu und legte ihre Hand darauf, nur um wenig später mit dem Zeigefinger dieser einen ganz bestimmten Namen auf die kalte Rinde zu schreiben; Avalon.
Es gab in jedem Land auf der Welt versteckte Teile, in denen sich diese Bruchstücke eines damals sehr großen Königreiches befanden, und in diesem Baum schlummerte ein Portal zu einem dieser Schlupfwinkel, um genauer zu sein, zur Heimat von Diantha und Eshinoya.
Als die Baumkrone kurzerhand aufleuchtete, schrieb Noya noch einen zweiten Namen auf den Stamm; Oberon, den Herrscher dieses Bruchstückes von der Welt der Elfen. Und danach drang Licht aus der Rinde des Baumes und der Stamm erglühte ebenfalls, wie auch schon sein Blätterdach.
Gleich darauf fanden sich die beiden Elfen nicht mehr in dem Teil des Waldes wieder, in dem sie eben noch gewesen waren, sondern in einer Art anderem Universum. Hinter ihnen ragte ein großes Steintor auf, zu dem eine Treppe von drei Stufen führte, und durch das sie hindurch noch das kurze Flimmern der Menschenwelt erahnen konnten. Vor ihnen erblickten sie einen Weg, der zu einem verschlafenen Dorf führte, das aus mehr als nur kleinen Hütten und Häuschen bestand, und in dem Hintergrund des Dorfes ragte ein schillernder, von der Sonne angestrahlter, weißer Palast auf.
Alles wirkte unwirklich und unnahbar, doch plötzlich gehörten Diantha und Eshinoya wieder einmal dazu und hatten ihre volle, sehr menschliche, Größe wieder.
„Ha, endlich!", rief Diantha triumphierend, sehr froh darüber, wieder ihre normale Größe erlangt zu haben. Doch bei dem Anblick des weißen Palastes wurde ihr eher schlecht. „Okay, also, falls du mich suchst, ich bin bei Lauren. Und zwar – ganz – weit – weg – von diesem Ding da! Also – man sieht sich!" Und kaum hatte sich Noya versehen, verschwand Diantha in den Tiefen des Elfenreichs. Dabei sah ihr die Violetthaarige ein wenig verdutzt nach, ehe etwas – oder eher jemand – ganz anderes ihre Aufmerksamkeit erregte.
Es war ein junger Mann mit verstrubbelten, langen, schwarzen Haaren. Er lag am Fuße des Steinportals und schien gerade aufgewacht zu sein, er schien beinahe mit dem Stein verschmolzen. Und als sie schließlich seine eisblauen Augen bemerkte, wusste sie augenblicklich, um wen es sich bei dem jungen Mann handelte. Ja, es wurde ihr sofort schlagartig vor Augen geführt, als dieser sich erhob und seine eigentliche Präsenz preisgab.
Seine besondere und unnatürliche Aura verriet den Elfenprinzen, denn, anders als bei gewöhnliche Elfen, floss auch Menschenblut in seinen Adern, das ihn anderen seines Volkes verriet. Er hatte diesen irrsinnig direkten wie seltsam mitfühlenden Blick, der ihn mit beiden Welten verband.
„Eure Hoheit, Prinz Yorsch!", verbeugte sich Noya rasch. Als sie ihren Blick wieder hebte, sah der junge Prinz sie verwundert an, sein schwarzer Umhang umschmeichelte dabei seine Schultern, verlieh ihnen aber eine etwas andere Aura; eine der Dunkelheit. Was war mit ihm in all' den Jahren geschehen?
Nun bemerkte sie auch, dass seine hellen, blauen Augen traurig, fast abwesend, wirkten, so als wäre er gar nicht hier, als wäre er in einer fernen Galaxie.
Seine Finger fanden ein auffälliges Medaillon, dass um seinen Hals hing. Dieses schien zu pulsieren.
Eshinoya spürte unaufhörlich, wie die Luft um sie herum dünner wurde. Rief dies etwa der schwarzhaarige Elfenprinz hervor?
„Was...?", konnte die Violetthaarige nur herauswürgen, wobei sie zurückstolperte, ehe sich diese Beklemmung in ihrer Lunge auch schon wieder legte. Der Prinz beruhigte sich offensichtlich.
Gleich darauf schien sich ein Lächeln auf seine Lippen zu schleichen, was Noya noch weitaus mehr irritierte. Nun stimmte sie Diantha absolut zu, sie wünschte, sie wäre dieser ach-so-tollen Hoheit gar nicht erst wiederbegegnet. Doch genau diese kam jetzt auf sie zu und blickte sie entschuldigend und mitleidig zugleich an. „Es tut mir leid...", sagte der Schwarzhaarige mit einer Sänfte in der Stimme, die andere Elfenmädchen zum Schmelzen gebracht hätte, aber sie nicht. Deshalb wandte sie sich schon zum Gehen und machte sich daran, wie Diantha, im Dorf nach Freunden und Verwandten ihrerseits zu suchen.
Yorsch war nun derjenige, der Noya mitleidig nachsah. Seinen Kopf schief gelegt, schmiegte sich sein langes, schwarzes Haar an seine ebenfalls langen, spitzen Ohren. „Ich wollte doch nur sagen, dass... dass ich das nicht wollte. Meine Magie... sie... Ach, egal! Es würde mir ja eh keiner glauben." Er seufzte schwer und setzte sich auf die unterste Stufe des Steinportals, wo er seine Ellenbogen auf den angewinkelten Knien ablegte. Sein Kopf drehte sich jedoch herum, sodass seine eisblauen Augen wie unbeirrt das noch immer leichte Flimmern im Torbogen wahrnahmen. Er verlor sich ganz in diesem, sowie er sich wünschte wieder dorthin zurückzukehren, in die andere Welt; in ihre Welt, die seiner Mutter.
Der Blick des Prinzen wurde bereits glasig, als plötzlich jemand vor ihn sprang und mit der Hand vor seinem Gesicht herum wirbelte. Es war Mai. Eine braunhaarige Elfe, mit langem geflochtenen Zopf und gelb-goldenen Augen. Sie war seine beste Freundin gewesen, in der Kindheit, aber für ihn schien das unendlich lange her zu sein. Dabei sollte er sich nicht in ihrer Gegenwart selbst bemitleiden, immerhin hatte sie viel Schlimmeres durchgemacht als er. Sie musste ohne Eltern aufwachsen, er hatte stets seinen Vater gehabt, auch wenn dieser nicht immer einer Meinung mit ihm war. Aber, hey, war das nicht normal zwischen Eltern und Kindern?
„Hey!", begrüßte Yorsch seine alte Kindheitsfreundin und Nacheiferin, seine Stimme war dabei kaum mehr als ein Flüstern, „Und suchst du wieder einmal nach Menschensachen?" Für mich, fügte er in seinen Gedanken hinzu. Ja, früher war das ein Spiel zwischen ihnen gewesen. Mai und Yorsch liebten es Dinge zu finden und zu untersuchen, die sie in der Nähe der Passage zwischen Menschen- und Elfenreich fanden. Es war ein Spiel, aber ein sehr schönes. Damals mussten sie noch nicht groß darüber nachdenken, was sie eigentlich taten – es erregte auch keine wirkliche Aufmerksamkeit –, aber seit dem Tage, an dem er diese bestimmte Sache erfahren hatte, war für ihn dieses Spiel eine Art Schicksalsfügung geworden, als hätte es von Anfang an irgendwie sein Leben bestimmt. In gewisser Weise hatte es das auch, denn besonders dadurch fand er seine Verbundenheit zu dieser anderen Welt, der Welt der Menschen. Letztlich war er immerhin halb Mensch, halb Elf.
„Antwortest du mir auf einmal auch nicht mehr, Mai? Das finde ich traurig, aber ich kann es verstehen. Keine Sorge, bald werde ich nicht mehr ein Problem sein, ich gehe nämlich fort...", murmelte Yorsch, fast ein wenig verschwörerisch oder melancholisch, „Ihr werdet mir alle ja so schrecklich fehlen, doch... ich habe das Gefühl, es muss sein. Verstehst du das?" Mit einem gequälten Lächeln hob der schwarzhaarige Prinz seinen Blick und sah seine altbekannte Freundin, die sich über die Jahre kaum verändert hatte, wieder einmal an. Er wusste nicht, wann er sie das letzte Mal so angesehen hatte.
Mai musterte ihren alten Freund eine ganze Weile. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Gut, eigentlich, hatte sie ihn ja schon lange nicht mehr gesehen. Außer, bei den königlichen Ansprachen, die sein Vater zu bestimmten Festen hielt.
„Darf ich fragen...", sagte sie schließlich, „...wohin genau du gehen willst?" Mai musterte ihn. Er wirkte wirklich anders. Trauriger. Und ein bisschen verloren.
„Ich denke, dass weißt du sehr wohl, aber...", begann Yorsch und raufte sich die langen, schwarzen Haare, sodass seine spitzen Ohren, die ein wenig krummer waren als die von Mai, zur Geltung kamen, „Ich denke nicht, dass es dir gefallen wird, wenn ich es dir direkt sage, deshalb erfährst du von mir nur eines, dass ich einen Ort suchen werde, wo ich so sein kann, wie auch immer ich bin. Wo meine beiden Hälften akzeptiert werden. Denn ich bin es so leid, dass mich alle so ansehen, als würde ich weder dort, noch hierher gehören. Ich bin wie ein Geist, der einen Ort heimsucht. Teils da, doch irgendwie auch wieder nicht." Er seufzte und stieg die letzten Stufen des Portals hinauf. Ganz langsam führte er seine Hand zum allerletzten Flimmern der Durchgangspassage. „Ich gehe heute Nacht. Proviant habe ich soweit zusammengepackt. Und ich möchte, dass du niemanden davon erzählst. Ich werde wohl nicht besonders viel Aufregung erregen, wenn ich ganz spurlos verschwinde, die meisten werden denken, dass es nur wieder eine meiner Launen ist, also nicht der Rede wert. Und mein Vater hat sicher ganz andere Sorgen."
Bei den letzten Worten konnte er nicht anders, er schnaufte verächtlich. Nachdem, was der Elfenkönig, sein Vater, befohlen hatte, um ihn angeblich zu helfen, konnte er ihm ohnehin erst mal gestohlen bleiben. Denn eines wäre klar, Yorsch würde in die Welt reisen, in die sein Vater nicht wollte, dass er je wieder zurückkehrte, auch wenn dieser seiner Mutter einst versprechen musste, ihn zu beschützen und in seiner Welt großzuziehen.
Aber der Unterschied an diesem Versprechen war, dass Yorsch nicht mehr großgezogen werden musste, er war bereits 20, also praktisch gesehen, erwachsen. Er konnte somit gut auf sich selbst aufpassen. Und eines Tages würde sein Vater es sehen, eines Tages würde sich der Schwarzhaarige vor diesem bewähren.
„Also, in meinen Augen...", warf die braunhaarige Elfe ein, „...ist das keine gute Idee." Mai zog ihren Dolch und begann, ihn in der Luft herumzuwirbeln. Eine Angewohnheit und etwas, das sie immer tat, wenn sie nicht wusste, was sie sonst mit ihren Händen anstellen könnte. „Aber ich werde mich nicht einmischen. Es ist dein Leben und einzig und alleine deins. Also steht es mir nicht frei, darüber zu urteilen."
„Danke!", wandte der Prinz sich nun wieder an sie und seine hellen Augen strahlten kurz entzückt auf, obwohl er sogar etwas verwundert war, dass von Mais einstiger Begeisterung für ihn gar nichts mehr durchzuschimmern schien. Ja, er hatte damals sehr wohl bemerkt, dass sie eine kleine Verliebtheit gegenüber ihm hegte, doch so wie es aussah, war sie darüber hinweg, was er wiederrum für gut befand. Das würde es ihr letztlich leichter machen, für alle Beteiligten.
„Nun denn, ich denke nicht, dass wir uns nochmal wiedersehen, daher...", begann Yorsch, wobei sich sogar ein Lächeln auf seine Lippen stahl, „Wie wäre es, wenn wir, bis zum Abend, ein letztes Spiel spielen?" Mit diesem Spiel war ihr Spiel gemeint; ihre gemeinsame Suche nach Fundsachen.
„Hm?", machte Mai, „Lass mich überlegen... Eigentlich muss ich noch Dinge erledigen, aber gut, meinetwegen." Lächelnd lief sie zu dem Prinzen hinüber und schlang ihre Arme um ihn. „Ich werde dich vermissen...!"
Yorsch nickte auf ihre Worte bestätigend und erwiderte ihre freundschaftliche Umarmung mit derselben Angst. Einer Angst, die vor seinem Entschluss nicht dagewesen war; die Angst, nie mehr zurückzukehren. Denn eines war sicher, das war es nicht, was er wollte. Irgendwann würde er zurückkehren, ja, das war ihm bewusst und das wollte er auch. Schließlich war und blieb Avalon für immer sein Zuhause.
Nach einer Weile, in der sie, um das Portal herum, sich aufgeteilt hatten und ihrer Suche nachgegangen waren, verging nun langsam doch die Zeit wie im Fluge. Der Abschied nahte also.
Der Schwarzhaarige klopfte seine Kleidung ab und klopfte seiner Freundin nochmals auf die Schulter, um ihr zu sagen, dass es Zeit sei. „Ich sollte jetzt langsam meine Sachen holen gehen, und ich denke, du hattest ja auch noch 'was zu tun, oder?", meinte er schließlich, schluckte, lächelte aber mitleidig, und hielt dabei einen Art Kamm in die Höhe, den er gefunden hatte, „Den bringe ich selbstverständlich in unser Versteck dafür. Übrigens darfst du es jederzeit besuchen und Dinge hinzufügen, wenn du welche findest, solange ich nicht mehr da sein werde." Yorschs Lippen kräuselten sich zu einem Grinsen, seine spitzen und krummen Ohren zitterten dabei, was seine Unsicherheit wohl verriet.
Mai grinste bloß breit. Sie hatte es sich auf einem Baumstamm bequem gemacht und beäugte den Schwarzhaarigen stumm. Ja, sie hielt es wirklich für eine dumme Idee. Dann wiederrum, vermutlich war sie die ängstlichste Elfe, die auf dieser Welt existierte, natürlich hielt sie es für eine schlechte Idee, das Elfenreich zu verlassen.
„Weißt du eigentlich, dass ich dich schon immer mal küssen wollte?", sagte sie so plötzlich, dass Yorsch erschrocken zusammenzuckte, „Und wenn auch nur um zu wissen, wie deine Lippen schmecken."
Als sie den Blick des Prinzen sah, konnte sie sich nicht mehr halten und fing an, lauthals zu lachen. Das steckte Yorsch glatt an und er begann sich zu fragen, ob er ihr diesen Kuss nicht sogar schuldete, weil er nicht wusste, ob oder auch wann er ihr wieder begegnen würde. Hätte sie es dann nicht wirklich verdient, ihren Wunsch zu erhalten?
Schließlich schmunzelte der schwarzhaarige Prinz noch einmal, ehe er sich zu seiner alten Kindheitsfreundin herunter beugte und ihr Kinn zwischen seinen Daumen und Zeigefinger nahm. Ein sanftes Lächeln schenkte er Mai noch, während er ihr gleich darauf einen freundschaftlichen Wangenkuss gab, ehe seine Lippen ganz behutsam und flüchtig die ihren streiften und sie den Geschmack von dessen kosten konnte.
„Ich dachte...", murmelte Yorsch, als er sich wieder aufrichtete, „Nun ja, es ist vielleicht kein Trost als Abschied, aber irgendwie doch auch schon, oder? Ich meine, ich wollte dir nur eine Freude damit machen..." Er bemerkte selbst, dass er unsicher mit seinen wohlmöglich zu rasch gewählten Worten war, weshalb er rot anlief und seine krummen Elfenohren erneut begannen zu zittern.
Augenblicklich lief Mai rot an. Doch sie wandte sich ab, damit Yorsch es nicht bemerkte. „Du... schmeckst gut!", murmelte sie, allerdings so leise, dass sie hoffte, der Prinz würde es nicht hören. „Ü-Übrigens...", stammelte die Braunhaarige, während sie sich von ihrem Baumstamm erhob, „Ich soll wohl verlobt werden. Du weißt schon. Hofdame und so. Mein Opa wünscht es sich für mich und ich will ihn nicht enttäuschen. Außerdem... naja, als Dienerin hab' ich wohl wenig Chancen drauf, überhaupt wen zu finden, was?"
„Also, ich finde ja, du hättest so erst recht Chancen, jemanden zu finden...", murmelte Yorsch recht ehrlich und grinste verwegen, „Immerhin werden Adlige doch häufig mit Leuten verheiratet, die sie überhaupt nicht kennen, nur der Politik halber. Von daher haben Leute wie du es doch um einiges leichter, was das angeht."
Kurz darauf konnte der schwarzhaarige Elfenprinz nicht anders, sein Grinsen von eben verschwand und machte einer traurigen und fast melancholischen Miene Raum, die er versuchte, durch eine gleichzeitig gleichgültig wirkende Masche zu übertünchen. Deshalb strich er sich seufzend ein paar seiner dicken, schwarzen Strähnen hinter eines seiner krummen Spitzohren und klopfte nochmals seine Kleidung ab, nur um danach den dunklen Umhang enger um seine Schultern zu ziehen. „Ich sollte jetzt dann wirklich los und meine restlichen Sachen zusammensuchen...", meinte Yorsch beinahe entschieden, „Ich hab' mich sehr gefreut, dich am Tag meiner Abreise noch einmal zu sehen, Mai. Da darfst du nichts Falsches denken, hörst du?"
Mit den Worten Yorschs, bildete sich ein breites Lächeln auf dem Gesicht der Braunhaarigen. Offenbar freute sie sich über die Worte ihres Freundes. Noch immer lächelnd ergriff sie seine Hand und schnipste gegen seinen Zeigefinger. Ein alter Gruß zwischen den Beiden.
„Wenn ich erst mal Kinder habe, dann werde ich ihnen von dem größten Abenteurer unseres Volks erzählen. Wie er loszog, um sich selbst zu finden. Ich werde nicht zulassen, dass irgendwer schlecht über dich redet." Nun ließ Mai seine Hand los und signalisierte ihm so, dass sie ihn ziehen ließ. „Schreib' Oberon einen Brief. Er soll sich nicht unnötig sorgen."
Und er würde ihren Rat beherzigen, nahm sich Yorsch vor, während er in seinem schier riesigen Zimmer im Palast der Elfen von einer Ecke zur nächsten lief, um zu gucken, ob er auch wirklich alles hatte, was er brauchte und überhaupt mitnehmen wollte. Die Worte seiner alten Freundin gingen ihm dabei nicht aus dem Kopf, denn sie berührten ihn, das gab er zu.
Hielt Mai ihn denn tatsächlich für den größten Abenteurer ihres Volkes? Wenn das stimmte, so durfte und konnte er sie nicht enttäuschen.
Damit steckte er einen kleinen Fetzen Pergament in seine Tasche an der Hose und lief zu dem großen Himmelbett herüber, das einen Baldachin in Form von Blütenblättern besaß, an dessen dünne, grüne Vorhänge hingen. Schließlich stopfte er noch einen ganzen Batzen normale Leinenhosen und -hemden in einen braunen Lederrucksack hinein, ehe er sich nochmals an seinen weißen Schreibtisch, vor den riesigen, gläsernen Türen des Balkons, setzte.
Ja, er beherzigte Mais Rat und schrieb seinem Vater einen Brief, in dem er ihm alles erklärte.
Vom Sonnenuntergang wärmte den Rücken des Schwarzhaarigen das grelle Sonnenlicht, während seine Hand die Feder rasch über das Papier bewegte und einige, wenige, kurze Zeilen schrieb. Denn Yorsch war wahrlich kein Mann der großen Worte oder endlosen Reden, er war dann doch eben nicht unbedingt der geborene Prinz, auch wenn er dazu erzogen wurde. Wenn ihm sein Vater auch dazu machen wollte, er konnte niemand sein, der er nicht war. Yorsch hoffte sehr, dass Oberon dies verstand; dass sein Vater es verstehen würde. Mehr wollte er gar nicht.
Dabei musste er sich eingestehen, eine schlechte Kindheit hatte Oberon ihm nicht mal geboten. Seine Kindheit war wirklich toll, gerade auch durch Mai. Aber seine Jugend, besonders seine späte...
Der Elfenprinz schüttelte sich. Er wollte jetzt nicht daran denken. Das würde ihn nur traurig machen, oder ihn vielleicht sogar von seinem Entschluss abbringen?
Nein, er wusste, er musste zu seiner Entscheidung stehen, und er durfte nicht zurückschrecken, nicht vor sich selbst und auch nicht vor seiner Herkunft, die er ergründen wollte. Alles war besser, als wieder diese tiefe Kluft aufkommen zu lassen.
„So, fertig!", murmelte Yorsch geschafft und faltete das Blatt Pergament zu einem Brief zusammen, auf den er schlicht ‚Oberon' schrieb. Nach einem erneuten Seufzen streckte er sich und warf sich schließlich wieder seinen schwarzen Umhang über, ehe er sich den braunen Lederrucksack schnappte. Dabei warf er noch der Balkonfensterfront einen Blick zu, durch die nun ein dünner Sichelmond einfiel. Dann wandte er sich auch von diesem ab und trat auf den Flur des Schlosses.
Als der Elfenprinz letztlich noch kurz vor den Gemächern seines Vaters anhielt, schob er sehr schnell und offensichtlich den erklärenden Brief, den er zuvor geschrieben hatte, unter der Tür durch. Dann verschwand er. Aus dem Palast – seiner Heimat –, in die Schatten der Nacht.

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