Kapitel 10: „Der Abreisetag II"

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Die Glocke, die oberhalb des Türrahmens angebracht war, schellte, als Rapunzel und Eugene die hauseigene Bäckerei betraten. Der Verkaufsraum war nicht sehr groß. Ein provisorischer Beistelltisch zierte die rechte Seite der Tür. Darauf befanden sich ein paar Teller mit Brot und Brötchen und auch mit Kuchen und anderen süßen Sünden, worunter ebenfalls das ein oder andere kleine Törtchen war.
Als der Braunhaarige gerade nach dem alten Bäcker Ausschau hielt, begutachtete Rapunzel schon mal die ausgestellten Nahrungsmittel. „Quentin, bist du da?", fragte Eugene in die seltsame Stille hinein. Als zur Antwort nur ein Krachen aus dem hinteren Teil des Hauses kam, der wohl als Backstube benutzt wurde, reichte dem Braunhaarigen dies. Somit ging er zu seiner Frau zurück und sah ihr über die Schulter. „Und? Schon 'was im Auge?", murmelte er fragend.
Während die Blonde ihre Antwort abwägte, öffnete sich erneut die Tür mit einem lauten Glockenhallen. Das Paar drehte sich um und erblickte eine junge Frau mit schulterlangen, roten Haaren und grünen Augen. Es war dieselbe, die sie gestern auf dem Karren gesehen hatten, der durchs Dorf gefahren war. Das weiße Kleid, um das eine dunkle Korsage geschlungen war, hing schlaff an ihrem Körper herunter, die Arme hatte sie hinterm Rücken verschränkt. Es sah fast so aus, als wollte sie dahinter etwas verbergen. Den Kopf schief gelegt, blickte sie Rapunzel und Eugene jedoch bloß verwundert an.
Allerdings kamen sie nicht zur Reaktion, denn da ertönte schon eine Stimme aus der Backstube, die wenig später einem Mann zuzuordnen war, der eine leichte Glatze über die Jahre bekommen hatte. Die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt und in seinen Händen hielt er ein weiteres Tablett mit Gebäck darauf. „Ach, das ist ja eine Überraschung, Eugene! Eason sagte mir schon, das du einmal wieder da bist. Freut mich! Und deine Begleitung? Möchte die gnädige Frau etwas?" Er lief durch den Verkaufsraum und stellte das Tablett auf die Ablage zu den anderen gebackenen Ergebnissen. Dann erst bemerkte er die dritte Gestalt; die rothaarige Frau. „Ah, Jule!", benannte er sie, „Wartet kurz! Deinen Proviant für die nächste Zeit habe ich hinten, Jule, ich komme gleich wieder. Bis dahin kann sich deine Begleitung, Eugene, schon mal etwas aussuchen. Kleiner Tipp, ich empfehle ihr die Blaubeertörtchen, die gehen runter wie nichts!" Kurz zwinkerte Quentin Rapunzel zu, ehe er schon wieder im Hinterraum verschwand und die beiden mit Jule alleine ließ.
Kaum war Quentin im Hinterraum verschwunden, entstand eine schrecklich lange und spannungsgeladene Atmosphäre im Verkaufsraum. Rapunzel gab sich große Mühe, den Druck auf ihren Ohren und das unangenehme Piepsen, das durch die Stille entstanden war, zu ignorieren. Um sich selbst abzulenken, lehnte sie sich noch ein Stück tiefer über die Auslage und betrachtete die Gebäckstücke genauer. Nebenbei legte sie eine mentale Liste von Sachen, die sie auch backen würde, sobald sie wieder zuhause waren, an.
Irgendwann war die Spannung im Raum förmlich greifbar und so erschrak sie, als die Finger ihres Mannes sanft ihren Arm streiften. „Entschuldige!", murmelte Eugene gleich darauf, kaum hörbar.
Rapunzel schüttelte sanft und kurz den Kopf und drückte den Rücken durch, um größer zu wirken. „Ich glaube, ich nehme das Marzipantörtchen. Und auf Quentins Empfehlung hin, eins mit Blaubeeren. Hm... Und eins mit Schokolade, ja?"
Während Eugene ebenfalls schmunzelnd den Kopf schüttelte, entschied sich Rapunzel dazu, der unangenehmen Situation ein Ende zu setzen. Zögerlich drehte sie sich zu dem rothaarigen Mädchen hinter ihnen herum. „Du hast... auch eine Elfe, nicht wahr?" Lächelnd streckte sie dem Mädchen die Hand hin, „Ich heiße Rapunzel! Wir kennen uns nicht, aber wie gerade gesagt, ich hab' auch eine Elfe. Ich weiß nicht, ob unsere Elfen sich kennen. Du kannst sie ja mal fragen, hm? Meine Elfe heißt Diantha. Und deine?"
In dem Moment kam Quentin aus der Backstube zurück. „Da kannst du lange warten, Jule ist nicht gerade die Gesprächigste."
Rapunzel wusste nicht, ob es ihr peinlich war, dass Quentin sie erwischt hatte – erwischt wobei eigentlich? – oder ob die Stimme des alten Bäckers sie schlichtweg erschreckt hatte.
„Wie dem auch sei, das ist für mein Töchterchen...", meinte Quentin und drückte der Rothaarigen ein großes Essenspaket in die Hände, die sie nun hinterm Rücken vorholte. Allem Anschein nach hatte sie gar nichts dahinter verborgen, doch dann entdeckten sie doch ein kleines Wesen mit eingedrehten, violetten Zöpfen, das sich auf ihrer Schulter absetzte. Dem kahlköpfigen Bäcker schien sie jedoch nicht aufzufallen, während er die verwunderten Mienen Rapunzels und Eugenes musterte. Lachend klopfte er den beiden auf die Schultern. „Um ehrlich zu sein, habe ich Jule bloß adoptiert. Aber ich hatte auch mal einen Jungen. Du erinnerst dich bestimmt noch an Shawn, richtig, Eugene? Naja, scheine mit ihm jedenfalls nicht sonderlich viel gut gemacht zu haben, er verließ unser Dorf mit seiner Mutter nämlich zur selben Zeit wie du uns verlassen hast. Und, ich glaube, er war ziemlich froh darüber." Nun schlang Quentin einen Arm um das rothaarige Mädchen, das selbst noch einen Kopf kleiner war als Rapunzel. „Zum Glück habe ich ja dann meine Jule bekommen. Sie stand auf einmal vor meiner Haustür – Einfach so. Ich habe es auch nie wirklich hinterfragt, weil die einzige, die es ja hätte wissen können, Jule ist. Und sie kann es mir schließlich nicht sagen."
Der Kahlköpfige überlegte kurz, ob er etwas vergessen haben könnte, während er dabei war, die Törtchen für Rapunzel einzupacken. „Nun...", begann Quentin und wickelte gerade das letzte Gebäckstück ein, „Es war schön dich mal wieder zu sehen, Eugene, und ebenso auch deine Angebetete kennenzulernen. Hat mich sehr gefreut!" Er lächelte, als er der Blonden ihre eingepackten Törtchen überreichte. „Sie sind wirklich ein besonderes Fräulein, wenn Sie Eugenes Herz für sich gewinnen konnten. Glauben Sie mir, er lässt nur ganz wenige in dieses wirklich hineinschauen. Das war schon immer eine Sache, die ich nie verstanden habe..."
Als Besagter sich räusperte, schüttelte Quentin leicht grinsend den Kopf. „Ist ja schon gut, ich hör ja schon auf!"
„Das habe ich damit nicht gemeint, aber~"
„Ich weiß sehr wohl, was du gemeint hast, Eugene!"
Mit lachenden Augen wendete der alte Bäcker sich wieder Jule zu und ging zu ihr hinüber. Er klopfte ihr kurz auf die Schulter, um ihr zu sagen, sie könne sich auch schon auf den Weg machen. Zu seiner Verwunderung schüttelte sie aber den Kopf und blieb, was ihn sehr überraschte.
Die Rothaarige lief jetzt direkt auf Rapunzel zu und lächelte sie freundlich jedoch zaghaft an. Dann wies sie mit einer stummen Handbewegung auf ihre Schulter, wo die kleine Elfe gelangweilt mit ihren zwei Zöpfen spielte. Als Jule sie daraufhin mit dem Finger anstupste, fiel die Elfe fast von der Schulter ihrer Freundin, so überrascht war sie. Dann bemerkte die Kleine die Blonde und machte einen winzigen Knicks auf Jules Schulter. „Hey!", murmelte die Violetthaarige, „Ich bin Eshinoya."
Im ersten Moment war Rapunzel ein wenig überrascht, doch dann breitete sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Freut mich sehr, ich bin Rapunzel!" Sie lehnte sich ein Stück vor, um der Violetthaarigen ihren Zeigefinger zu reichen. Diese musterte Rapunzel eine Weile, bis sie schließlich ihren Finger ergriff und ihr somit die Hand schüttelte. „Darf ich vorstellen? Mein Mann Eugene."
Lächelnd sah sie zu der Rothaarigen auf. „Und du heißt also Jule, ja?" Hustend mischte sich Noya ein. „Eigentlich heißt sie ja~", doch sie konnte nicht enden, weil sie einen flehentlichen Blick ihrer rothaarigen Freundin erntete, deshalb korrigierte sie sich sogleich, „Ja. Ja, Jule ist absolut richtig!" Genervt zog sich die Elfe wieder auf Jules Schulter zurück, woraufhin diese Rapunzel nur wieder gut zu lächelte.
So entstand erneut ein Moment des Schweigens, bis Eugene dieses schließlich brach, da er sich an Quentin wendete. „Sag' mal, bezüglich Jule, kann es sein, dass es einen triftigen Grund gibt, warum sie nicht redet?", fragte der Braunhaarige, der sich wegen der kleinen Elfe wirklich beherrschen musste, nicht auszurasten. Er sah allerdings, wie der alte Bäcker zögerte, bevor er begann eine Erklärung zu murmeln. „Also gut, die Sache ist die, dass... Jule nicht sprechen kann." Als er die verwirrten Gesichter von Eugene und auch Rapunzel sah, seufzte er hörbar auf, „Ich hab' das offen gestanden noch keinem weiteren im Dorf anvertraut, da Jule, seit sie 24 ist und damit schon lange volljährig, ohnehin nur noch nach Lumen kommt, um sich immer wieder Proviant abzuholen. Aber sie ist..."
„Sie ist stumm.", meldete sich Eshinoya zu Wort, „T'schuldigung, aber ich konnte die langen, um den heißen Brei herumredenden Ansprachen von diesem lahmen Bäcker nicht mehr mit anhören! Kommt der überhaupt mal zum Punkt oder liegt das am Alter? Wenn letzteres zutrifft, tut's mir leid, alte Leute soll man ja nicht unterbrechen, stimmt's?" Die kleine Elfe zuckte unbeeindruckt mit den Schultern, während Jule peinlich berührt den Kopf schüttelte. Eugene ließ einen Kommentar hören, doch Rapunzel beachtete ihn nicht, denn ihr Blick klebte nun wie gebannt an einem der Fenster, durch welches man einen einwandfreien Blick auf den Marktplatz hatte. Das Licht der Sonne wurde von den goldenen Rüstungen der Wachen reflektiert.
Die Wachen des Palastes hatten sich draußen rund um eine Kutsche aufgestellt und flankierte die Person, die gerade ausstieg, von allen Seiten. Rapunzel erkannte den schwarzhaarigen Berater an seinem Federhut und unterdrückte ein genervtes Stöhnen.
Mit raschen Schritten eilte sie zur Tür des Ladens, nur um diese ruckartig zu öffnen. „Was machst du hier?", erkundigte sich die Blonde, als sie kurz vor dem Schwarzhaarigen zum Stehen kam.
„Wir haben den Befehl erteilt bekommen, euch früher abzuholen. So schlimm?", antwortete der Schwarzhaarige und setzte einen trotzigen Blick auf.
„Befehl?! Falls du es nicht mehr weißt, Raymond, aber Eugene und ich regieren bald. Wer sollte dir das denn befe-...", doch Rapunzel verstummte, als sie bemerkte, wie sich die Tür der Kutsche noch einmal schwungvoll öffnete. Gleich darauf tauchte eine Frau mit einem auffälligen Kleid, in allen erdenklichen Farben und mit einer Kopfbedeckung, die die Federn eines Adlers zierten, vor der Blonden auf. „Also wirklich, Schätzchen, glaub mir nicht, dass ich meinen Anteil an diesem Thron so schnell aufgebe!"
„Tante Helen! Was... Was um Himmels Willen tust du denn hier?!" Mit raschen Schritten eilte Rapunzel über den matschigen Boden, nur um sich im nächsten Augenblick ihrer Tante in die Arme zu werfen.
Bislang hatten sich die beiden erst zweimal gesehen. Das erste Mal bei Rapunzels Krönung und das zweite Mal bei ihrer Hochzeit mit Eugene. Damals hatte Tante Helen es sehr deutlich werden lassen, für wie attraktiv sie Eugene hielt und hatte deswegen mehr als einmal einen finsteren Blick ihres Bruders, König Alan, erhalten.
„Ich wusste nicht, dass du vorbeikommen würdest."
„Ach, Schätzchen, ich auch nicht. Aber mein werter Ehemann bestand darauf." Abschätzig schüttelte Helen den Kopf, „Er meinte, so könne ich besser trauern. Ich hätte ihm gerne an den Kopf geworfen, dass das Wiedersehen mit dem attraktiven Mann meiner Nichte das Ganze auch nicht rückgängig macht." Schwer seufzend schüttelte sie ihre gräulich-blonden Korkenzieherlocken. Mit traurigem Blick begutachtete sie ihre Nichte von oben bis unten, tastete ihre Arme ab, während sie sie eine Armeslänge von sich wegschob. „Kindchen, es tut mir ja so leid. Das hast du alles nicht verdient, wirklich nicht. Geht es dir gut? Kümmert sich Eugene gut um dich? Er hat dich doch nicht etwa geschwängert, oder? Nichts gegen Schwangerschaften, ich weiß, du bist alt genug, aber die Situation wäre doch wirklich ungünstig. Wo steckt der eigentlich? Ist er abgehauen? Wenn ja schlage ich dem eigenhändig die Eier ab! Moment, hat er dich verlassen?! Wo ist dieses Arschloch, den schlage-..."
„Tante Helen!", versuchte Rapunzel, sichtlich verzweifelt, ihre aufgebrachte Tante zu beruhigen, „Mir geht es... Naja, so gut, wie es eben geht. Und nein, Eugene hat mich nicht geschwängert und er ist auch nicht abgehauen. Er kümmert sich rührend um mich und ich liebe ihn nach wie vor, mit jeder Faser meines Körpers. Aber... darf ich dich 'was fragen?"
Eifrig nickte Helen. „Natürlich!"
„Was machst du hier? Wir wären heute Abend doch eh zurückgekommen?"
Plötzlich schien sich ihre Tante überhaupt nicht mehr wohl zu fühlen. Unruhig blickte sie sich um, ergriff das Handgelenk ihrer Nichte und zerrte sie mit sich in die Kutsche hinein, obwohl Rapunzel sich höchst offensichtlich wehrte. „Kindchen, hier ist es nicht sicher, vertrau mir! Komm, wir fahren nachhause!" Helen schloss die Tür hinter sich und hinderte Rapunzel mit eisernem Griff daran, die Kutsche zu verlassen.
„Aber was ist mit Eugene?"
Beruhigend strich ihre Tante ihr eine Strähne hinters Ohr, nur um sie gleich darauf fest an sich drücken. „Er kommt nach, versprochen. Beruhige dich bitte, ja? Alles wird gut!"

Frozen & Tangled II: Unforeseen ObstaclesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt