Kapitel 19: „Ein Peridot in der Glut"

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Fulvia kniete auf dem steinernen Boden des Schlosshofs, durch dessen Rinnen und Rillen dunkles, zähflüssiges Blut floss. In ihren Händen hielt sie ein mit Alkohol durchtränktes Leinentuch, das sie einem älteren Mann auf eine Wunde am Oberarm drückte. Bei dem Mann handelte es sich um den Besitzer der örtlichen Bibliothek, der Fulvia so viele Bücher über Medizin verliehen hatte. Sie durfte ihn nicht sterben lassen.
Ihre Finger zitterten von der Kälte des Abends. In ihrer Nase stach der metallische Geruch des Blutes. Dabei bemerkte sie gar nicht, dass ihre Bemühungen umsonst waren.
Das Herz des alten Mannes schlug nicht mehr. Doch das bemerkte sie erst, als die arendellische Prinzessin ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Es ist gut. Du solltest ihn... jetzt gehen lassen, denke ich...", murmelte diese und sah die Italienerin dabei mitleidig an.
Während Anna ihr noch aufmunternd zunickte, ging sie zurück zu ihrer Schwester, die gerade ein Stück Eis an die blutunterlaufene Schläfe einer Frau drückte, die einen Säugling im Arm hielt. Bei diesem Bild fasste sich die rothaarige Prinzessin jedoch selbst an den Bauch und erschrak förmlich, als ihr blonder Ehemann sie von hinten überraschte. „Na, alles gut, mein Liebling?"
„Kristoff?", machte sie und strich sich leicht unsicher eine Strähne ihres roten Haars hinters Ohr, „Was machst du denn hier?"
„Äh, ich wollte meine Frau fragen, ob es ihr gut geht. Geht es dir denn gut?"
„Ja, wieso sollte es nicht. Es geht mir gut." Sie räusperte sich. „Naja, besser als manchen anderen zumindest."
Ihr Blick wanderte über den Schlosshof, der von den vielen Verletzten nur so wimmelte. Die meisten hatten es zwar heil überstanden, aber ohne einen Schock waren sie dann doch nicht davon gekommen.
„So viele sind verletzt, seelisch wie körperlich." Die Prinzessin seufzte, sodass sie ihren Kopf gegen Kristoffs Schulter legte. Dieser strich sachte über deren roten Schopf, dessen eine weiße Strähne zierte. „Ich weiß, dieser Tag war nicht so, wie du ihn dir erhofft hattest."
„Weißt du, Kristoff, wann war ein Tag mal je, wie ich ihn mir erhofft habe? Denk nur an Elsas Krönung!"
Der Blonde musste, trotz des tragischen Umstands, schmunzeln. „Eine gute Sache hatte dieser Tag."
„Ach ja, und welche?"
„Du hast Freunde kennengelernt. Rapunzel und Eugene."
„Ja...", säuselte Anna, „Da hast du Recht."
„Und am nächsten Tag kam immerhin ich, auf den du getroffen bist!", erkannte Kristoff nun stolz. Seine Frau kicherte ermuntert. „Ja, das stimmt auch wieder. Danke, Schatz!" Damit stellte sie sich noch auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben, ehe sie auch schon auseinander fuhren und bemerkten, dass Coronas König augenblicklich durch das Schlosstor in den Innenhof trat.
Eugene blickte sich traurig im Hof um und kam dabei zuallererst auf die junge Apothekerin zu. „Das ist eine ungute Wendung, nicht wahr?", sprach er sie an und riss sie somit aus ihrer Trance.
„So viele sind verletzt. Eugene, ich kann sie unmöglich alle retten." Man sah der Rothaarigen den Schmerz, den dieser Satz auslöste, förmlich an. Sie hockte wie ein Häufchen Elend auf dem Boden, ihre bleiche Haut war von Blutflecken übersäht und ihr Blick war trüb vor Erschöpfung. Momentan saß sie inmitten zweier Kinder, offenbar Zwillinge, die krampfhaft husteten, um ihre Lungen von dem Rauch zu befreien.
Eugene wollte gerade etwas erwidern, da eilte Rose zu ihnen hinüber. „Hier, Fulvia, die Um-...", doch sie verstummte, als sich ihre Freundin kein Stück regte. „Hey, Fulv?!", murmelte die Schneiderin mitleidig und kniete neben der Italienerin nieder, um sie sanft in die Arme zu schließen. Dann blickte sie zu Eugene auf. „Wo ist Rapunzel?"
„Ich...", murmelte Eugene verwirrt und sein Blick wanderte erneut über den Schlosshof, wo er seine Frau nicht entdecken konnte, „Ich weiß es nicht. Ich dachte, sie wäre bereits hier, bei euch."
Als der Braunhaarige die verblüfften Mienen sah, wurde er doch panisch und raufte sich verzweifelt die Haare. „Was wenn ihr nun etwas passiert ist?", fragte er sich laut, erwartete aber schon gar keine Antwort mehr von Rose oder Fulvia, sondern wollte losstürmen, um die braunhaarige Königin Coronas zu suchen.
Doch da sahen die Freunde, wie Raymond eilig den Schlosshof betrat. Er hielt sich die Schläfe, an der offensichtlich Blut hinunterlief. „Die Königin! Die Königin, ich flehe euch an, jemand muss ihr helfen!"
Lord David war der erste, der den Schwarzhaarigen erreichte und ihn eindringlich musterte. „Wie bitte? Was ist denn passiert?" Alle Anwesenden blickten Raymond erwartungsvoll an. Dieser richtete seinen stechenden, flehenden Blick nun auf den braunhaarigen König.
„Ich konnte gerade noch mit ansehen, wie die Stabbingtons sie packten und fortbrachten. Ich habe keine Ahnung, was sie damit erreichen wollen, aber sie könnten ihr Gott-weiß-was antun." Der Schwarzhaarige fasste in die Tasche seines Anzugs, der scheinbar unversehrt das Feuer überstanden hatte und zog eine Kette hervor, die Eugene augenblicklich bekannt vorkam. Es war die Kette mit dem kleinen, grünen Peridot – dem Monatsstein des August; ihres Monats. Die Kette, die Rapunzel vor einiger Zeit für sie beide gekauft hatte. Und Eugene trug das perfekte Gegenstück um seinen Hals. „Die hier habe ich bei der niedergebrannten Schmiede gefunden."
Unweigerlich musste sich der König an den Hals fassen, um das genaue Abbild dieser zu spüren bekommen, das neben der Kette mit dem Ring seiner Mutter baumelte. Dann schluckte der Braunhaarige hart.
Schließlich fasste er sich nach dieser schrecklichen Nachricht aber doch recht schnell und meinte: „Wir müssen uns augenblicklich auf die Suche nach ihr machen! Alle, die wir entbehren können, sollen mich begleiten. Die Königin muss gerettet werden, koste es, was es wolle." Als Eugene sich dabei noch einmal auf dem Schlosshof umblickte, musste er jedoch erkennen, dass kaum jemand in dem Zustand war, ihn zu begleiten. Entweder waren die Menschen äußerlich von den Flammen sehr übel zugerichtet worden oder hatten innerlich einen so starken Schock erleiden müssen, dass sie kaum mehr sprechen konnten. So oder so, selbst die zahlreichen Wachen schienen mit dem unüberlegten Vorschlag ihres neuen Königs nicht sonderlich einverstanden.
Seine vorzeitige Euphorie verpuffte, wodurch er seine Schultern hängen ließ. „Es muss doch etwas geben, das wir tun können...", murmelte Eugene sich selbstfragend, was ihm noch weniger Antworten verschaffte.
„Vielleicht...", meldete sich der blonde Eismann aus Arendelle nun zu Wort, „Kann ich helfen? Mir würde es jedenfalls eine Ehre sein."
Anna fiel ihrem Mann gleich darauf in seine Rede ein. „Ich werde dir ebenfalls helfen, Eug~", doch Kristoff umfasste dabei besorgt ihre Schultern. „Nein, mein Schatz, du solltest lieber bleiben, wo du bist. Ich denke, deine Hilfe wird hier dringender benötigt."
„Aber Rapunzel ist auch meine Freundin!", protestierte die rothaarige Prinzessin und verschränkte die Arme vor der Brust, „Außerdem kannst du meine jetzige Verfassung nicht als Ausrede nehmen, das gilt nicht!"
Der verblüffte Blick des blonden verriet Anna, dass sie sich gerade gehörig verplappert hatte, denn auch ihre Schwester wurde nun hellhörig und fuhr zu ihr herum.
Elsa gab dabei einer schwarzhaarigen Frau, die eine Uniform der königlichen Wache trug, den Eisklumpen, den diese dann an die blutunterlaufende Stirn der verletzten Frau hielt.
„Was meinst du damit, ‚in deiner jetzigen Verfassung'? Dir hat doch das Feuer in Corona nichts angetan...", wandte sich Elsa leicht besorgt an ihre kleine Schwester.
„Äh, nein, hat es nicht. Keine Sorge!", wedelte die Rothaarige ab und sah sich nun zwei Gesichtern gegenüber, die sie verwirrt musterten. Eines gehörte ihrem Mann, eines ihrer Schwester.
Anna wurde sichtlich nervös. „Also vielleicht ist das jetzt vermutlich der falsche Zeitpunkt, um euch diese... äh, freudige Nachricht zu verkünden, aber..." – Die Prinzessin nahm von jedem ihrer Gegenüber eine Hand, von Elsa und von Kristoff. Letzteren sah sie dabei ganz besonders lange in die Augen, ehe sie sich auf die Unterlippe biss und schließlich räusperte. –, „Ich bin schwanger."
Diese Neuigkeit verursachte zwischen den beiden in der Tat eine überraschte und beindruckende Stille. „Sagt doch irgendwas! Ich komme mir sonst echt blöd vor...", meinte Anna ungeduldig.
„Ach, du kommst dir blöd vor, was soll ich da erst sagen?!", schrie Kristoff sie fast an. Elsa hob daraufhin beschwichtigend ihre Hand. Ihrer Schwester standen aber bereits Tränen in den Augen. „Warum schreist du mich denn jetzt so an?"
„Weil ich wünschte, du hättest es mir vorher erzählt, dass ich Vater werde. Nicht in solch' einer Situation."
„Was kann ich denn dafür? Es ist ja nicht so, als wärst du dabei unschuldig gewesen."
Der Streit der beiden eskalierte, weshalb Elsa es nicht einmal versuchte, dazwischen zu gehen. Es würde ja doch nichts bringen. Außerdem war doch wohl erst mal eine Sache zwischen ihnen. Sie würde Anna zuhören, wenn sie soweit war. Die blonde Königin lief darum zu einem Mann, der auf einer Pritsche auf dem Boden lag und beschwor etwas Eis, dass sie diesem gegen das Schienbein drückte. Dieser stöhnte erleichtert, wenn auch schmerzerfüllt auf. Die Stimme ihres Schwagers konnte sie dabei allerdings nicht ausblenden.
„Aber wann sollte das denn überhaupt passiert sein, wann haben wir denn...?", fragte Kristoff leicht verwirrt, aber etwas beruhigter, an Anna gewandt, stellte im nächsten Moment jedoch selbst fest, was dieser auf der Zunge lag, „Etwa unsere Hochzeitsnacht?"
„Ich fürchte, ja...", gestand die Rothaarige ihm und senkte betroffen den Blick. Er wiederum hob ihn gleich darauf mit seinem dicken Daumen und Zeigefinger an, indem er ihr Kinn mit diesen anhob. Aufmunternd hob er leicht seinen rechten Mundwinkel an. „Meine Überreaktion tut mir leid, wirklich. Ich hätte nur leider nie damit gerechnet, einmal so früh Vater zu werden."
„Glaub mir, ich kann mich mit dem Gedanken auch noch nicht so ganz anfreunden, dass...", Anna stockte und schaute verloren zu ihm empor. Damit umschlang Kristoff sie sogleich mit seinen breiten Schultern und legte seine Arme um sie, wodurch sie sich fest an ihn klammerte. Denn genau das war es doch, was sie gebraucht hatte. Eine Umarmung. Nicht mal tröstende Worte, nur die Nähe und das Verständnis ihres Ehemannes.

Frozen & Tangled II: Unforeseen ObstaclesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt