Schnell lief ich immer tiefer in den Wald. Ich versuchte so leise wie möglich zu sein, doch das war angesichts der Umstände gar nicht mal so leicht. Ich war immer noch leiser als jeder andere Mensch, der durch den Wald lief, doch um meine Verfolger abzuschütteln war ich definitiv immer noch zu laut. Außerdem hinterließ ich Spuren. Die Äste knackten und brachen unter meinen Füßen, Kaninchen und Vögel erschreckten sich und flohen geräuschvoll vor mir.
Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen, wie ich unbemerkt verschwinden konnte. Ich blieb kurz stehen, um zu lauschen wie nah sie mir mittlerweile waren. Es war zu nah. Ich hörte sie bereits. Mir musste schnell etwas einfallen!
In der Nähe hörte ich Wasserrauschen. Der Lautstärke nach zu urteilen war es ein Fluss. Ich wusste nicht, ob ich noch so viel Zeit hatte, doch mir fiel nichts anderes ein. Also lief ich weiter, bemühte mich extra viele Spuren zu hinterlassen und streifte meine Jacke an sämtlichen Bäumen, damit die Hunde meine Spur auch ja nicht verloren. Ich zog meine Jacke aus und schmiss sie weg. In irgendeinem Gebüsch blieb sie hängen. Dann lief ich den Weg wieder ein wenig zurück und als sie zu nahe waren und ich sie immer deutlicher hörte, verließ ich den eben von mir kreierten Weg und ging vorsichtig in die Richtung des Flusses. Und da hörte ich auch schon meine Verfolger. „Die Hunde sind ganz wild, wir haben das Miststück gleich!“ Ein kleines Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen.
Doch als ich am Fluss ankam stellte ich fest, dass die Strömung ziemlich stark war. Das Wasser rauschte schnell und stark flussabwärts. Auf ihm trieben einige Äste die sich wild überschlugen und am Rand teilweise hängenblieben, nur um sich Sekunden später zu lösen und doch wieder mitgerissen zu werden.
Ich schluckte. Der Fluss war nicht sonderlich breit, doch ich war mir nicht sicher ob ich es schaffen würde hinüber zu gelangen. Nervosität machte sich in mir breit. Entweder ich schwamm oder ich fand eine andere Lösung! Also blickte ich mich suchend um. Doch nirgends war etwas zu erkennen, wo ich hätte drüber klettern können. Und ich hatte keine Zeit mehr. Irgendwann würden sie meine Jacke im Gebüsch finden und woanders suchen. Also lief ich zum Flussufer und wartete auf einen relativ großen Ast, der gerade in der Nähe auf dem Fluss trieb. Angespannt beobachtete ich ihn und als er auf meiner Höhe war griff ich danach und ließ mich von ihm ins kalte Wasser ziehen. Augenblicklich keuchte ich auf. Mein Körper reagierte sofort auf diese Eiseskälte und ich brauchte ein paar Sekunden um meine Atmung wieder einigermaßen zu beruhigen. Dann drehte ich den Ast so, dass er für mich passend lag und begann mit kräftigen Zügen auf die andere Seite des Flusses zu schwimmen. Ich war eine gute Schwimmerin, doch wollte ich lieber nicht ausprobieren ob ich dieser Strömung auch ohne Schwimmhilfe gewachsen war. Und mit Hilfe des Astes kam ich tatsächlich recht schnell auf der anderen Seite an, doch war ich mir noch nicht sicher wie ich es schaffen sollte an Land zu kommen. Ich atmete erleichtert aus als ich etwas weiter flussabwärts einen Ast sah, der in den Fluss hineinragte. Also machte ich mich bereit und sobald ich bei dem anderen Ast ankam griff ich danach und ließ ich den Ast, an dem ich mich bis gerade festgehalten hatte, los . Beinahe wäre ich abgerutscht und vom Fluss wieder mitgerissen worden, doch mit letzter Kraft gelang es mir mich festzuhalten. Ich zog mich hoch und raus aus dem Fluss. Dann blieb ich erstmal eine Minute auf dem Boden liegen und atmete schwer. Ich hatte es geschafft! Doch ich musste weiter, also stand ich schnell wieder auf und setzte meinen Weg fort.
Immer tiefer lief ich in den riesigen Wald. Ein Glück, dass mich mein Orientierungssinn noch nie im Stich gelassen hatte. Wenn ich noch einen halben Tag in diese Richtung lief würde ich endlich mein Auto erreichen. Dann wäre ich in Sicherheit und konnte mich auf den Heimweg machen.
Ich sah an mir hinab und bemerkte wie ich zitterte. Zwar war es ein milder Herbsttag, doch die pitschnasse, kalte Kleidung verhinderte, dass ich die angenehm warme Luft spürte. Gut, dass ich für alle Fälle immer Wechsel-Klamotten im Auto parat liegen hatte. Bei meinen Aufträgen wusste ich schließlich nie vorher, was vielleicht passieren würde.
Ich fühlte mich sicher genug und holte mein Handy raus. Nun war ich überglücklich, dass ich mir erst vor kurzem die wasserdichte Hülle für mein Handy zugelegt hatte. Mein Handy war trotz meines Schwimmgangs noch komplett funktionstüchtig. Leider hatte ich nicht viel Empfang aber es war gerade noch genug. Ich wählte eine mir vertraute Nummer und schon nach einem Klingeln ertönte seine tiefe Stimme. „Kalißa?“ „Ja ich bin es. Ich hab‘s erledigt. Bin jetzt auf dem Heimweg.“ „Gut. Verfolgt dich jemand?“ Ich schüttelte unnötigerweise den Kopf. „Nein, ich hab sie abgehängt“ „Pass auf dich auf. Und wenn du hier bist, komm als erstes zu mir.“ „Natürlich, Leon.“ Dann legte ich auf und verstaute mein Handy wieder.
Ich arbeitete nun seit knapp einem Jahr für Leon und führte seine Aufträge stets aus ohne ihren Grund zu hinterfragen. Anfangs hatte ich jedes Mal Fragen gestellt um die Hintergründe zu erfahren. Doch irgendwann hatte es mich nicht mehr interessiert. Außerdem hatte es Leon noch nie gut gefallen wenn ich Fragen gestellt habe.
Es waren immer unterschiedliche Aufträge. Mal sollte ich etwas stehlen, manchmal jemanden beschatten und es kam auch vor, dass ich jemanden töten sollte. Ich fand es nicht schlimm zu töten. Gut, ich liebte es auch nicht, aber eigentlich bedeutete es mir nichts. Daran schuld war meine Gabe. Oder mein Fluch. Das kam ganz auf die Sichtweise an. Ich konnte mich oft selbst nicht entscheiden ob ich es als Gabe oder Fluch empfand.
Mir war es möglich kurze Gedankenfetzen von meinem Gegenüber aufzufangen. Es war nicht klar und deutlich, wie man sich das Gedankenlesen vielleicht vorstellt, deshalb habe ich es auch nie als solches bezeichnet. Es war mehr eine Ahnung. Ein grober Einblick in die Gedanken. Und Gefühle konnte ich spüren. Gefühle wie Hass, Liebe, Wut, Hoffnung, Waghalsigkeit. Ich konnte anhand dessen voraussagen, was die Person als nächstes tun würde. Hatte sie einen Entschluss gefasst, spürte ich ihn exakt in dem Moment und konnte handeln.
Diese „Gabe“ hatte aus mir sehr früh eine Erwachsene gemacht. Denn ich musste damals schnell lernen damit umzugehen, schließlich waren die Gedanken der Menschen nicht immer positiv und rein. Und für einen kleinen Kinderverstand war das zu viel. Also hatte ich gelernt meine Gabe zu kontrollieren, zu unterscheiden welches meine Gefühle waren und welche nicht. Auch musste ich lernen nicht die Kontrolle über mich zu verlieren, denn es war das ein oder andere Mal vorgekommen, dass mich das Gefühlschaos übermannt hatte und ich nicht mehr wusste was ich tat. Also schottete ich meine Gefühle ab. Kalt zu sein und gar nicht erst Gefühle zuzulassen, war meiner Meinung nach die beste Methode damit umzugehen. Das hatte in der Schule nicht gerade dazu geführt, dass ich besonders viele Freunde hatte, doch das interessierte mich nicht.
Mittlerweile war ich 17 Jahre alt und machte wie jeder andere Teenager auf dem Gymnasium mein Abitur. Dieses „normale Leben“, das ich nebenher führte, fühlte sich bloß wie ein Ablenkungsmanöver an. Mein richtiges Leben waren die Aufträge, die ich für Leon ausführte. Er hat mich vor zwei Jahren bei einem Kickbox-Wettkampf entdeckt. Mit Kickboxen habe ich vor einigen Jahren begonnen. Es half mir ebenfalls mich besser kontrollieren zu können. Außerdem wollte ich mich beschützen können. Und natürlich war ich gut in diesem Kampfsport. Schließlich spürte ich, was meine Gegner als nächstes tun würden.
Leon hatte mich damals abgefangen und versucht mit mir zu reden. Er war fasziniert von meiner Technik. Und von mir. Aber ich hatte damals keine Lust gehabt mit ihm zu reden. Ich hatte überhaupt selten Lust mit jemandem zu reden. Ich war es auch nicht gewohnt mich zu unterhalten, die meisten Menschen mieden mich. Es wusste zwar niemand von meiner Gabe, doch meine Ausstrahlung reichte völlig um ein unwohles Gefühl in den Menschen auszulösen. Doch Leon ließ nicht locker und er ließ sich auch nicht abschrecken. Er begleitete mich nach hause und stellte mir Fragen über Fragen. Dabei fuhr er sich regelmäßig mit seinen Händen durch die dunklen Haare und seine eisblauen Augen blitzten jedes Mal fröhlich auf, wenn ich ihm mal antwortete. Von da an hatte Leon es sich zur Aufgabe gemacht mein Vertrauen zu gewinnen. Und somit war er tatsächlich fast ein Jahr später neben meinen Eltern der einzige Mensch, dem ich jemals von meiner Gabe erzählt hatte. Er war tatsächlich zu einer Art Freund für mich geworden. Und nachdem ich mich ihm anvertraut hatte, erwiderte er dieses Vertrauen und erzählte mir von Wesen, die in unserer Welt lebten, ohne, dass wir davon wussten. Er tauchte mich in eine völlig neue Welt. Und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl einen Sinn gefunden zu haben.
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Die Jägerin
ParanormalEr streifte sanft meinen Arm. Ich erschauerte unter seiner Berührung und bekam wie immer eine Gänsehaut. „Du musst das nicht tun“, versuchte er mich traurig umzustimmen. Doch ich lachte bitter auf. „Und ob ich das muss.“ Ich gab ihm noch einen zar...