Abend des nächsten Tages quetschte ich mich mit Ohitika und Thokala auf die Sitzbank von Jims altem Pick-up. Er hatte uns angeboten, uns zu einem Bekannten zu bringen, der ein moderner Medizinmann der Lakota sein sollte. Von den Zeitwächtern hatte Jim noch nichts gehört, was angesichts seiner Ablehnung der alten Überlieferungen auch nicht erstaunte. „Aber wenn euch einer helfen kann, dann Ben Black Elk", hatte er gemeint.
Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde. Jim hatte die Fenster heruntergelassen und lehnte seinen Ellbogen auf den unteren Rand. Der Fahrtwind, der mir ins Gesicht wehte, schmeckte nach Staub, aber ich genoss die frische Luft, während ich schweigend hinaus auf die vorbeiziehende hügelige Graslandschaft starrte und versuchte, irgendetwas wiederzuerkennen. Aber es hatte sich alles verändert. Die ursprüngliche Prärie existierte vermutlich nur noch in den Naturschutzgebieten der Badlands. Es war unvorstellbar, dass ich hier vor nur einem Jahr in eine riesige Büffelherde geraten war. „Zahme Büffel" hatten sie ersetzt.
Schließlich kündigte ein verblasstes Schild am Rand des Highways den Eingang zur Reservation an. „Welcome to Pine Ridge Reservation" stand darauf, begleitet von den Symbolen und Farben der Oglala-Lakota. Das Land war nur spärlich besiedelt, es gab einige Ansiedlungen und verstreut liegende einzelne Häuser, die meisten klein und schlicht, manche in renovierungsbedürftigem Zustand mit abblätternder Farbe und verfallenden Dächern. In den Vorgärten standen alte Autos, Spielsachen und zusammengewürfelte Gartenmöbel.
Wir fuhren durch eine kleine Siedlung mit einer Kirche, einem Lebensmittelgeschäft und etwa einem Dutzend Wohnhäusern. Ein paar braungebrannte Kinder spielten am Straßenrand und sahen unserem Wagen interessiert nach, eine Mischung aus Misstrauen und Neugierde im Gesicht.
„So also leben die Lakota heute", sagte Ohitika. Es war das erste Wort, das er seit Beginn der Fahrt sprach.
„Sie sind zu Waschitschu geworden", sagte Thokala verächtlich.
„Nicht ganz. Einige bewahren sich noch ihre alte Kultur und Sprache", erwiderte ich.
„Die Krieger, die ich kannte, hätten sich nicht freiwillig auf so ein Reservat sperren lassen", brummte Thokala, als hätte er mich nicht gehört. „Lieber wären sie im Kampf gestorben."
Ich antwortete nicht, erinnerte mich nur mit Sorge an die Hoffnungslosigkeit in Ohitikas Augen und seine resignierten Worte.
Jim bog auf eine unbefestigte Straße ab und wir holperten über den staubigen Weg durch die weit offene Landschaft, bedeckt mit gelbem Gras, das im Licht der Abenddämmerung golden schimmerte. Kurz darauf erreichten wir eine Hütte, die etwas abseits von der Straße an einem kleinen Bach lag. Sie wirkte ebenso karg und unscheinbar wie die meisten Häuser hier – das einzig Besondere war das davor aufgebaute, mit bunten Symbolen bemalte Ledertipi.
„Da wären wir", brummte Jim und stellte den Motor aus.
Zögernd stiegen wir aus. Die Tür der Hütte öffnete sich und ein Mann trat heraus. Er mochte etwa Mitte fünfzig sein, trug abgetragene Jeans und ein blau-kariertes Hemd. Nur seine langen grauschwarzen Haare, die zu zwei Zöpfen geflochten waren, und die tiefbraunen Augen verrieten seine Herkunft.
„Jim, mein Freund!", begrüßte er unseren Fahrer und umarmte ihn. „Du hast dich lange nicht hier blicken lassen."
„Ben, darf ich vorstellen – das sind Mary, Oti und Fox", sagte Jim und deutete auf uns. „Neue Mitglieder unserer Showtruppe."
Der ältere Lakota musterte uns neugierig – ein weißes Mädchen und zwei traditionell gekleidete Lakota tauchten sicher nicht so häufig vor seiner Hütte auf. Doch wie alle Lakota kam er zuerst seinen Pflichten als Gastgeber nach.
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Plötzlich Indianer - Teil 2
Ficción históricaMarie hat ihr Glück bei den Lakota an der Seite von Ohitika gefunden. Doch das Schicksal hat andere Pläne: Ein dramatisches Ereignis erschüttert ihre Welt und zwingt sie zu einer gefährlichen Reise. Gemeinsam mit Ohitika und dessen Rivalen Thokala b...