I.

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„Never look a raven in the eye for too long. It might steal your soul and fly away with it."

Aus: „Snow White: A Tale of Terror" (1997)

I.

(Mo)

Mit klammen Fingern schüttelte Mo Schnee aus den Falten ihres Wollschals. Sie hatte die Kälte eindeutig unterschätzt, als sie aus dem Haus gegangen war. Obwohl sie erst die Hälfte ihres Weges hinter sich gebracht hatte, war sie bereits bis auf die Knochen durchgefroren. Mo vergrub die Hände in den Taschen ihres Parkas und verfluchte sich erneut dafür, ihre Kopfhörer vergessen zu haben. Abgesehen vom leisen Rascheln von fallendem Schnee, war es vollkommen still um sie umher. Alte Bäume streckten ihre nackten Äste zu einem blendend grauen Himmel hinauf. Mit ihren aschblonden Haaren, den grauen Augen und den verwaschenen Jeans verschmolz sie beinahe mit den toten Farben des Waldes.

Ein Rascheln in den Wipfeln ließ sie zusammenfahren. Hoch über ihr hatte sich ein tiefschwarzer Kolkrabe auf einem Ast niedergelassen und sah sie mit schief gelegtem Kopf neugierig an. „Ist verdammt kalt heute, oder?", fragte sie an den Vogel gewandt. Er wetzte den Schnabel am Ast und fixierte sie danach mit seinen glasigen Augen. Vermutlich war dies das Raben-äquivalent zu einem Schulterzucken. Der Rabe inmitten des Schneegestöbers gab ein hübsches Bild ab und sie verweilte einen Augenblick um ihn zu betrachten, bis die Kälte in ihren Gliedmaßen unerträglich wurde.

Als sie sich wieder in Bewegung setzte, verließ auch der Rabe seinen Platz. Er schrie einmal kurz auf und in der Ferne erklang die Antwort seiner Artgenossen. Ein Schauer kroch ihr über den Rücken. Es war eine Schande, dass Arik nicht bei ihr war. Er hätte wahrscheinlich sofort seine kleine Digitalkamera, die ihn fast überall hin begleitete, hervor geholt und den Raben fotografiert. Im Gegensatz zu ihr liebte er die kalte Hälfte das Jahres, die monochromen Landschaften des Winters und wie sich selbst die vertrauten Rufe der Tiere fremd und unheimlich zwischen den Bäumen verloren. Sie ahnte, dass er sie wahrscheinlich, kaum dass sie bei ihm angekommen war, wieder in die Kälte hinaus und auf eine Fotosafari schleifen würde. Natürlich konnte sie ablehnen, aber spätestens wenn sich seine großen, braunen Augen vor Enttäuschung verdunkelten, würde sie doch wieder einknicken. Er wusste es nicht, aber sie konnte ihm einfach keine Bitte abschlagen, selbst wenn ihr dabei Hände und Füße abfroren.

Flügelschlagen riss sie aus den Gedanken. Ein Rabe landete direkt neben ihr auf einem niedrigen Ast und sie wich aus Reflex zurück. Dabei ließ sie ihr Gleichgewichtssinn, der schon unter den besten Umständen eher dürftig funktionierte, im Stich und sie ging fluchend zu Boden. Sie beeilte sich wieder auf die Füße zu kommen und ignorierte den dumpfen Schmerz, der ihr noch in den Gliedern steckte. Das schlimmste an der ganzen Sache war, dass jetzt Schnee, Herbstblätter und Matsch an ihrer Hose und ihrem Parka hafteten und beide langsam durchweichten. Nach einem halbherzigen Versuch, die eisige Pampe von ihrer Kleidung zu klopfen, gab sie das Unterfangen auf.

Zu ihrer Überraschung saß der Rabe noch immer da, als sie sich aufrichtete. Er ruckte mit dem Kopf und blinzelte. Mit einem Mal fühlte Mo sich beobachtete, und zwar nicht so, wie sie es sonst bei Tieren gewohnt war. Sie wusste um die Intelligenz von Rabenvögeln, doch die Art und Weise, wie dieser Vogel sie anstarrte, war entnervend. Es war als ob er sie sorgfältig und eingehend musterte, nur um ihr dann wieder ins Gesicht zu sehen und leise zu krächzen. Mo widerstand dem Bedürfnis ihn zu fragen, ob er ein Problem mit ihr hätte. Stattdessen ließ sie die Hand langsam in ihre Jackentasche gleiten, um nach ihrem Smartphone zu fischen. Doch kaum dass sie das Icon der Kameraapp angetippt und die Linse auf eine Höhe mit dem Raben gebracht hatte, schrie dieser wie in Empörung auf und flog davon.

Enttäuscht schob sie das Gerät wieder in ihre Tasche und setzte ihren Weg mit hastigen Schritten fort. Jetzt, wo sie zu allem Überfluss auch noch nasse Hosen hatte, konnte sie es erst recht nicht erwarten das Haus von Ariks Tante zu erreichen. Bei diesem Gedanken hielt sie kurz inne und holte ihr Mobiltelefon wieder hervor. „Setzt schon mal Teewasser auf, um mich wieder aufzutauen. Bin gleich da", tippte sie mit steifen Fingern und schickte die Nachricht ab. Arik, der manchmal den Eindruck machte, den ganzen Tag nichts anders zu tun, als auf seinen Display zu starren, um auf Benachrichtigungen zu warten, antwortete prompt: „Geht klar. Übrigens: Pass bei der Auffahrt auf, es ist schweineglatt." Sie sparte sich die Arbeit, ihm zu schreiben, dass es keinen Unterschied mehr machte, ob sie sich noch ein zweites Mal auf die Fresse legte. Er würde noch früh genug von ihren Eskapaden erfahren.

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