II.
(Arik)
Wie angekündigt glich Mo eher einem Eisblock als einem Menschen, als Arik ihr die Tür öffnete. Wortlos gab er den Weg in die Wohnung frei und schloss die Tür schnell hinter ihr, um der Kälte von draußen zu entgehen. Von hinten sah er, dass ihr Haar steif gefroren war und ihre Kleidung die Spuren eines Sturzes trugen.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und er schob sich die Brille höher auf die Nase. „Was ist passiert?", wollte er wissen und half ihr aus dem schmutzigen Parka. „Erzähle ich dir gleich. Auch wenn ich fast bezweifle, dass du mir glauben wirst. Aber erst muss ich aus diesen Klamotten raus", sagte sie und streifte ihr Schuhe ab, um sie dann auf die alten Zeitungen zu stellen, die seine Tante in weiser Voraussicht vor der Heizung im Flur ausgelegt hatte. Sie sah sein Gesicht und knuffte ihm sanft in die Seite. „Es ist nichts Schlimmes passiert. Um ehrlich zu sein war es eher lustig. Oder lächerlich. Ich bin mir noch nicht ganz sicher."
„Hi, Mo!", seine Tante streckte den Kopf aus dem Wohnzimmer und unterbrach das Gespräch. Ihr breites Lächeln machte Besorgnis Platz. „Mach bloß, dass du aus den nassen Sachen raus kommst. Du holst dir noch den Tod. Verrücktes Wetter, oder? Ich muss gleich noch los und einkaufen. Hoffentlich sind die Straßen geräumt. Braucht ihr noch etwas?" Arik überließ Mo das Reden und hängte den Parka zum Trocknen auf einen Kleiderbügel bevor er in sein Zimmer ging um ihr trockene Kleider herauszusuchen.
Dabei lauschte er den aufgeregten Stimmen der beiden Frauen. Es war immer wieder deprimierend festzustellen, wie wenig er der kleinen Schwester seines Vaters ähnelte. Mit seinen dunklen Haaren und Augen kam er eher nach seiner Mutter, die als kleines Mädchen nach Deutschland gekommen war, als seinem Vater. Darüber hinaus konnte er auch zwischen dem fröhlichen und aufgeschlossenen Charakter seiner Tante keine Parallelen zu seinem eigenen Wesen erkennen. Ein Fremder hätte vermutlich noch eher darauf getippt, dass seine Tante mit Mo verwandt wäre, als mit ihm.
In seinem Schrank fand er eine Hose, die Mo vor kurzem bei ihm gelassen hatte, und ein paar dicker Socken. Sicherheitshalber suchte er auch noch ihren Lieblingspullover heraus. Streng genommen war es sein Pullover, doch Mo trug ihn mittlerweile viel öfter als er selbst. Im vergangenen Winter hatte sie beinahe in dem Ding gelebt und sich nur von ihm getrennt, wenn er in die Waschmaschine musste.
„Deine Tante bringt uns Tiefkühlpizzen mit!", verkündete Mo als sie wenig später in sein Zimmer gestürmt kam. Sie entdeckte die Thermoskanne auf seinem Schreibtisch und ein Ausdruck von Dankbarkeit huschte über ihre Züge. „Hier", Arik legte ihr die trockenen Kleider hin und setzte sich dann auf seinen Bett, um verlegen aus dem Fenster zu starren während sie sich aus ihrer Hose schälte. „Brauchst du noch ein Handtuch für deine Haare?", fragte er in den Raum hinein. „Nö, das trocknet von alleine", antworte Mo und schob sich einige nasse Strähnen hinter die Ohren. Achtlos ließ sie den Kleiderhaufen mitten auf dem Fußboden liegen, schnappte sich den die Thermoskanne und die Tassen und ließ sich dann neben ihm auf dem Bett nieder. Sie war ungewöhnlich aufgekratzt, und fummelte für ein paar Sekunden erfolglos mit dem Verschluss der Kanne herum, bevor sie die Kanne an ihn weiterreichte. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wortlos goss er ihnen beiden Tee ein und stellte die Kanne beiseite. Mo umklammerte ihre Tasse wie eine Ertrinkende einen Rettungsring.
„Nun mach' es nicht länger spannend und erzähl' was los war", bat Arik und nahm einen Schluck von seinem Tee. Mo sah ihn für einen Sekundenbruchteil verwirrt an, als wüsste sie nicht, wovon er redete. Dann hellten sich ihre Miene auf und die Worte sprudelten geradezu aus ihr hinaus. „Ein Rabe hat mich durch den Wald verfolgt. Eigentlich wollte ich ein Foto für dich machen, aber das fand er irgendwie nicht so gut, und ist weggeflogen. Und dann hat sich auch noch ein total eigenartiger Typ von hinten an mich ran geschlichen und super seltsames Zeug gelabert, darüber, dass der Rabe mit meiner Seele davon fliegen könnte."
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Rabenbrüder
Paranormal„Wenn du einem Raben zu lange in die Augen blickst, nimmt er sich deine Seele und fliegt damit davon." Mit dieser dramatischen Warnung treten die Brüder Ives und Juri in das eintönige Leben der 17-jährigen Mo und ihres besten Freundes Arik. Auch wen...