VI.
(Arik)
Graues Tageslicht drängte sich durch die halb offenen Vorhänge ins Zimmer und entriss Arik den sanften Fängen des Schlafes. Benommen tastete er nach seiner Brille und danach nach der Wasserflasche neben seinem Bett. Er fühlte sich, als hätte er einen Ringkampf gegen einen mittelgroßen Braunbären verloren. Der Geschmack in seinem Mund ließ sich einfach nur als ekelig bezeichnen und sein Magen fühlte sich flau an.
Mo lag zusammengerollt auf der Matratze, die sie nach ihrer Rückkehr im Halbschlaf aus dem Gästezimmer hier her gezerrt hatten. Ihre Haare waren das reinste Rabennest und sie trug noch immer seinen Pullover. Selbst im Schlaf sah sie noch genauso zufrieden aus, wie sie es in der vorangegangenen Nacht getan hatte. Spätestens jetzt, beim Anblick ihres friedlichen Gesichts, hätte er ihr die gestrige Aktion mit der spontanen Zusage zu einem Abend mit Fremden vergeben. Und das, obwohl er mittlerweile davon überzeugt war, dass die Brüder in irgendeine schräge Sache verwickelt waren. Warum hätten sie sonst ein solches Geheimnis um ihr Leben vor dem Einzug in ihre derzeitige Wohnung gemacht? Für den Augenblick und so lange sie nicht versuchten, sie in irgendwelche krummen Angelegenheiten hinein zu ziehen, war er bereit, Mo zur Liebe, darüber hinweg zu sehen.
Langsam, und mit protestierend knackenden Gelenken, schob er sich aus dem Bett. Es kostete einiges an Überwindung, denn es war sehr kalt im Zimmer. Er brauchte dringend eine heiße Dusche. Mit geübter Lautlosigkeit suchte er sich frische Kleider aus seinem Schrank heraus und verließ das Zimmer. Er hatte die Zimmertür gerade hinter sich zugezogen, da vernahm er das Trappeln von vier Pfoten im Schweinsgalopp. Edgar musste ihn gehört haben und versuchte jetzt rechtzeitig vor dem Schließen der Tür bei ihm anzukommen. Die Enttäuschung darüber, dass er es nicht rechtzeitig geschafft hatte, stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er maunzte herzerweichend. Arik kniete sich zu ihm hin und streichelte sein flauschiges Fell. Jetzt, da er sein Winterfell hatte, sah er aus wie ein altmodischer Handwärmer aus einem winterlichen Kostümdrama. Nur eben mit Beinen und Schwanz.
Edgar schloss die Augen und lehnte sich schnurrend gegen seine Hand, als er ihn hinter den Ohren kraulte. Als Arik gerade dachte, er habe genug, ließ er sich mit einem dumpfen Geräusch auf den Rücken fallen und sah vertrauensvoll zu ihm auf. „Noch nicht genug Liebe, mein kleiner Klops?", flüsterte Arik und streichelte ihn unterm Kinn. Erst als der Kater sich auf die Seite drehte und damit begann, sich zu putzen, ließ Arik von seiner Tätigkeit ab und wandte sich zum Gehen. Edgar beschwerte sich lautstark und beeilte sich, ihm hinter her zu laufen. Bevor er ihm wieder ins Bad folgte nur um schreiend vor Tür zum Flur zu stehen, kaum dass Arik ganz nass war, machte er lieber einen Abstecher in die Küche, um sein kleines Monster zu füttern.
„Mo? Hey, Mo? Wach auf!", Arik hielt seiner besten Freundin eine Tasse heißen Tees unter die Nase. Sie murmelte etwas, das „Guten Morgen" geheißen haben konnte, oder aber „Geh weg". Er grinste. Die nur angelehnte Tür wurde aufgeschoben und Edgar spazierte triumphierend ins Zimmer. „Du solltest machen, dass du hoch kommst. Du weißt, wenn er sich erst auf dich gelegt hat, kommst du so schnell nicht mehr hier weg", erinnerte er sie. Dieses Mal verstand er ganz genau, was sie sagte. Es war nicht besonders nett. Trotz ihres Unwillens setzte sie sich auf und nahm den Tee an sich. „Wie spät?", krächzte sie. Er sah auf sein Mobiltelefon. „Zehn Uhr, dreiunddreißig Minuten, fünfzehn Sekunden. Sechzehn Sekunden. Siebzehn." Sie machte einen Unkoordinierten Versuch mit ihrem Kissen nach ihm zu werfen, scheiterte aber an der Feinmotorik.
Er ließ ihr ein paar Minuten, um zu sich zu kommen. Edgar trampelte und krallte aufgeregt auf Mos Decke herum, drehte sich mehrmals um sich selbst und kringelte sich zu einer Katzenkugel zusammen. „Schon aufgeregt?", fragte Arik sie endlich. Er selbst war es auf jeden Fall und hasste sich dafür. Er redete sich ohne jeglichen Erfolg ein, dass er sich nicht in voller Absicht für etwas schmeichelhaftere Kleidung entschieden hatte, als jene, die er in der Nacht zuvor getragen hatte. Laut einer zuverlässigen Quelle, nämlich Mo, passten der dunkelrote Strickpullover und die schwarzen Jeans, die er jetzt trug, gut zusammen. Warum ihm das heute so wichtig war, wusste er selber nicht so genau.
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Rabenbrüder
Paranormal„Wenn du einem Raben zu lange in die Augen blickst, nimmt er sich deine Seele und fliegt damit davon." Mit dieser dramatischen Warnung treten die Brüder Ives und Juri in das eintönige Leben der 17-jährigen Mo und ihres besten Freundes Arik. Auch wen...