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(Arik)

„Er hat so gut wie überhaupt gar nicht mit mir geredet!", entrüstete Mo sich, während sie eine unfassbar unsaubere Abschrift von seinen Mathehausaufgaben machte. Sie hatten noch eine knappe Viertelstunde bevor der Unterricht anfing. Wie üblich hatten sie sich in den stickigen Aufenthaltsraum im alten Teil der Schule zurückgezogen. Zwar wimmelte es hier von Buskindern, die jeden Morgen zwangsweise Aufenthalt vor dem Unterricht hatten, aber zumindest gab es hier Tische und Stühle.

Irgendein hämischer Gott hatte beschlossen, ihre Montage in diesem Schuljahr zu den unerfreulichsten Montagen in der Geschichte der Montage zu machen. In den ersten beiden Stunden hatten sie Mathe, gefolgt von einem Allerlei aus Langeweile und einem furchtbarem Crescendo bestehend aus zwei Stunden Sport. Schon unter den besten Umständen war ihre gemeinsame Stimmung montags dementsprechend schlecht, doch Mos Laune war an diesem Tag rekordverdächtig. „Ich habe die ganze Fahrt über quasi mit mir selbst gesprochen", schäumte sie, „Ich versteh den Typen nicht. Erst gabelt er einen auf der Straße auf und schleppt einen mit zu sich nach Hause, dann fragt er nicht einmal nach, wie dein Tag war." Arik machte sich eine mentale Notiz, dass Mo nicht zu den Mädchen gehörte, die dachten, dass Typen, die sie nach einer heißen Aufwärmphase links liegen ließen, interessant waren.

Er hatte keine Ahnung, wie er dazu stand, dass Ives sich auf einen Kurswechsel begeben hatte. Wenn er an das Treffen im Supermarkt und an alles, was danach kam, zurückdachte, war er sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob Ives wirklich mit dem Hintergedanken, ihr romantisches Interesse zu wecken, mit ihr geflirtet hatte. Schließlich hatte er auch mehr als einmal Arik gegenüber ein Verhalten gezeigt, das unter anderen Umständen als Flirten hätte durchgehen können. Fakt war nur, dass Ives sich äußerst verwirrend benahm und Arik nicht besonders traurig darüber war, dass die Dinge zwischen Ives und Mo sich bisher nicht weiterentwickelt hatten. Er hatte es wirklich nicht eilig, seine beste Freundin an einen anderen Kerl zu verlieren. Auf der anderen Seite hatte er absolut nichts dagegen, wieder von Ives irgendwo hin verschleppt zu werden, um nicht in den Genuss von Mos musikalischen Lernprozess kommen zu müssen. Fast alle Fotos, die er gestern geschossen hatte, waren schlichtweg fantastisch geworden. Er brannte eigentlich darauf, sie Mo zeigen zu können. Er hatte eine kleine Auswahl auf die Speicherkarte seines Mobiltelefons übertragen, doch konnte sich nur schwer vorstellen, dass Mo gerade in der Stimmung war, sich Bilder anzusehen, die in der Anwesenheit ihres abtrünnigen Schwarms entstanden waren.

„Juri hat mich gefragt, ob ich am Wochenende wieder vorbei komme", sagte Mo vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen und sah ihn aus eulenartigen Augen an. Von ihm unbemerkt war sie dazu übergegangen ein Arbeitsblatt für den Biologieunterricht abzuschreiben. „Du kommst doch mit, oder?", fragte sie und er hätte schwören können, dass ihr Gesicht Anzeichen eines schlechten Gewissens zeigt. Er nickte und verkniff sich ein Schmunzeln. Für die Aktion von Samstagabend konnte sie ruhig ein bisschen schmoren. Die Indizien verhärteten sich, als Mo sich die Haare hinter die Ohren strich und unkonzentriert auf einen unsichtbaren Punkt vor sich starrte. „Irgendetwas sagt mir, dass du mir noch etwas anderes zu gestehen hast?", mutmaßte er und verschränkte die Arme. „Juri hat mir geschrieben, dass Ives am Donnerstag um 16 Uhr Feierabend hat", sie machte eine vielsagende Pause. „Und?", fragte er, obwohl er die Antwort längst schon erahnte. „Was hältst du davon, an diesem Tag mit einer Konsole und vier Kontrollern bei den beiden vorbei zu schauen?" „Habe ich eine Wahl?", fragte er und lächelte, damit sie wusste, dass er einverstanden war. „Nicht wirklich", gestand sie, „Wie du weißt besitze ich nur zwei Kontroller."

Leider hatte der Montag seinem Namen alle Ehre gemacht. Mit einem Gefühl tiefer Erschöpfung in den Knochen lehnte Arik an einem der Pfeiler des Fahrradunterstands der Sporthalle. Kaum, dass er dort angekommen war, hatte sich ein Kolkrabe auf einem Ast in seiner Nähe niedergelassen, und beobachtete ihn seitdem aufmerksam. Arik hatte gehofft, es sei Juri und hatte ihm beim Namen gerufen, doch der Vogel hatte ihm einen verachtenden Blick zugeworfen und sich nicht vom Fleck gerührt. Mit aufgeplustertem Gefieder hockte er nun auf seinem Ast und sah zu ihm hinunter. Ob Raben bei diesem Wetter froren? Es war noch immer recht kalt, wenn auch nicht ganz so frostig sehr wie am Tag zuvor. Über den Tag hinweg hatte der Schnee leider einiges an Schönheit eingebüßt.

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