VIII.
(Arik)
Der Anblick, der sich ihnen bot, war schlichtweg überwältigend. Uralte Bäume umringten in einem Halbkreis die letzten Überreste der Burg, die einmal im späten Mittelalter hier erbaut worden war. Auf der anderen Seite erstreckten sich Felder, so weit das Auge sehen konnte und darüber endlos und beinahe schmerzhaft blau, der Himmel. Arik konnte sich kaum entscheiden, ob er einfach nur so dastehen und schauen, oder tatsächlich Fotos machen wollte. Selbst Ives schien es die Sprache verschlagen zu haben.
Sie hatten den Bluebird am Fuße des Burghügels stehen lassen, und waren das letzte Stück gelaufen. Obwohl es sehr kalt war und das Laufen durch den hohen Schnee beschwerlich gewesen war, hatte Ives sich nicht ein einziges Mal beschwert, auch dann nicht, wenn sie nach ein paar Schritten schon wieder anhalten mussten, weil Arik einen besonders schönen Baum fotografieren wollte. Trotz seinem zuvorkommenden Verhalten, hatte Arik noch immer nicht den Mut aufgebracht, ihn zu fragen, ob er ihn ablichten durfte. Dabei ergaben seine dunkle Kleidung mit den schwarzen Haaren und dem Schnee einen reizvollen Kontrast. Seine leicht geröteten Wangen und Nase machten die ganze Sache aus irgendeinem unersichtlichen Grund noch schlimmer. Normalerweise interessierte Arik sich nicht dafür, Personen zu fotografieren. Aber heute ertappte er sich wiederholt dabei, wie sein Blick fast schon sehnsüchtig in Ives' Richtung wanderte.
„Lass mich dir das abnehmen", schlug Ives ihm vor, als er sich damit abmühte sein Stativ aufzubauen, während die Kamera um seinen Hals und die Kameratasche sich unablässig gegenseitig ins Gehege kamen. Dankbar übergab Arik ihm erst die Tasche und dann auch noch die Kamera. Dann widmete er seine volle Aufmerksamkeit dem störrischen Stativ. „Hey, Arik", sagte Ives sanft. Als Arik sich zu ihm wandte, hörte er das vertraute Klacken des Spiegels seiner Kamera. „Nicht nett!", beschwerte er sich, ohne es wirklich ernst zu meinen. „Lächelst du für mich?", fragte Ives und bewegte sich so, dass er ihn mir der Ruine im Hintergrund im Bild hatte. Ariks Herz schlug ihm wie wild gegen die Rippen. „Ich lächle für dich, wenn ich nachher auch ein Bild von dir machen darf." „Deal", war die unmittelbare Antwort.
Er drehte sich so, dass er frontal zur Kamera stand. „Du lächelst immer noch nicht", merkte Ives an. „Mir fällt gerade nichts Lustiges ein", verteidigte Arik sich. „Manche Leute lächeln auch einfach nur, weil sie gerade zufrieden oder glücklich sind." „Ich bin gerade glücklich", versicherte Arik ihm, „Ich bin nicht mehr hier gewesen, seitdem meine Mutter gestorben ist. Als ich noch klein war, sind wir jedes Mal hier her gekommen, wenn wir Urlaub bei meiner Tante Johanna gemacht haben." Ein kompliziertes Gefühl nistete sich in seiner Brust ein. Ein Teil Trauer, ein Teil Nostalgie und dann noch ein bisschen von dem Gefühl, das er immer bekam, wenn er zu lange in den Sternenhimmel hinauf blickte. Er lächelte. Der Spiegel der Kamera klickte als Ives den Auslöser drückte.
„Tut mir leid", sagte Ives sofort. Er sah schuldbewusst aus und seine Augen glänzten von der Kälte. „Versprich mir, dass du das Foto nicht löschen wirst", verlangte er mit eindringlicher Stimme. „Warum?" „Versprich es mir einfach." Arik schüttelte den Kopf, „Du bist wirklich seltsam, weißt du das?" „Ja, weiß ich. Aber das ist keine Antwort", erwiderte Ives. „In Ordnung, ich verspreche es", sagte Arik mit einem Schulterzucken und nahm seine Kamera entgegen.
Er schickte sich an, die Kamera auf das Stativ zu setzen. „Ich dachte, du wolltest ein Bild von mir machen?", fragte Ives. Es klang vage beleidigt. „Ich will ein Foto von dir und dem Bluebird", gestand Arik endlich. „Wo liegt da das Problem? Mal abgesehen davon, dass ich zwei Bilder von dir gemacht habe und du jetzt fairer Weise auch zwei von mir machen dürfen würdest, stehe ich dir auch ohne Gegenleistung zu jeder Zeit als Fotomodell bereit", Ives legte den Kopf schief und ein unfassbar breites Grinsen drohte sein Gesicht in zwei Hälften zu teilen, „Außer natürlich, es handelt sich um Nacktbilder. Da müssten wir vorher über eine angemessene Gegenleistung sprechen." Arik prustete los. „Du bist so ein Vogel." „Nein", sagte Ives nach kurzem Nachdenken, „Ich habe einen Vogel. Zwischen beidem liegt ein gewaltiger Unterschied, falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte." An Stelle einer Antwort hob Arik die Kamera.
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Rabenbrüder
Paranormal„Wenn du einem Raben zu lange in die Augen blickst, nimmt er sich deine Seele und fliegt damit davon." Mit dieser dramatischen Warnung treten die Brüder Ives und Juri in das eintönige Leben der 17-jährigen Mo und ihres besten Freundes Arik. Auch wen...