IV.
(Arik)
Die Gegend, in die Ives sie verschleppt hatte, hätte aus einem Horrorfilm stammen können. Nichteinmal die dicke Schneeschicht, die alles bedeckte, konnte etwas an der Atmosphäre allgemeiner Verwahrlosung ändern. Im schmutzigen Licht vereinzelter Straßenlaternen erhoben sich graue, baufällige Häuser hinter schiefen Gartenzäunen und verwilderten Vorgärten. Hier und da tanzten die blauen Lichter von Bildschirmen in verdunkelten Zimmer und manchmal strahlte goldenes Licht in die Nacht hinein. Doch die meisten Fenster waren blind vor Schwärze. Über alledem lag der melancholische Geruch von verbrannter Kohle und Holz.
„Ich hoffe inständig, dass du kein irrer Axtmörder bist und uns gerade nicht an einen abgelegenen Ort führst, um uns in Ruhe das Licht auszuknipsen", kommentierte Arik trocken und versuchte seine Hände in seine Hosentaschen zu schieben, ohne dass der Stoffbeutel ihm dabei von der Schulter rutschte. Er wollte kein Spielverderber sein, doch seine Laune war mittlerweile beim absoluten Nullpunkt angelangt. Außerdem ging ihm die Stille zwischen ihnen langsam auf die Nerven. Eigentlich mochte er Schweigen, jedoch nur jene Sorte, die auf dem Einverständnis beruhte, dass es nicht nötig war, zu sprechen. Das Schweigen, mit dem sie es in den letzten 20 Minuten zu tun gehabt hatten, war voll von heimlichen Blicken und ungestellten Fragen gewesen.
Anscheinend hatte er Ives mit der Frage überrumpelt, denn er blieb stehen, um ihn verwundert anzusehen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass dies die ersten Worte waren, die Arik seit ihrem Aufbruch gesprochen hatte. „Sei nicht albern. Eine Axt ist viel zu umständlich. Ich habe vor, euch mit einer Kettensäge zu erledigen", scherzte er und setzte sich wieder in Bewegung. „Die passt auch viel besser zu meinem Outfit", ergänzte er und zwinkerte ihm zu. Zu behaupten, dass er nicht verstand, was Mo an Ives fand, wäre eine Lüge gewesen.
Trotzdem war es schwer, ihr Verhalten vorhin zu akzeptieren. Das Problem lag nicht bei der Impulsivität, mit der sie die Entscheidung getroffen hatte, sich zu zwei vollkommen Fremden einladen zu lassen. Mo hatte diese spontanen Momente öfter und es fiel ihm immer schwer, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Situationen überforderten. Was ihn wirklich frustrierte war, dass sie gewusst hatte, wie sehr Ives ihn einschüchterte und ihn trotzdem in Zugzwang gebracht hatte, sie zu begleiten. Wenn sie ihn wirklich so toll fand, hätte sie sich auch seine Nummer geben lassen und ihn am nächsten Tag zu einem Date irgendwo in der Öffentlichkeit treffen können. Stattdessen musste Arik jetzt den Abend in einer fremden Wohnung mit zwei fremden Typen verbringen und seiner besten Freundin beim Flirten zusehen, während er in irgendeiner Ecke Schimmel ansetzte. Spaß sah definitiv anders aus.
Unzufrieden seufzend vergrub er den Kopf zwischen den Schultern. Im Notfall konnte er sich immer noch ins Koma saufen. Dann bekam er von dem Elend um sich herum nichts mehr mit. Unter Umständen konnte er Ives und seinem Bruder auch irgendwo in eine Ecke des Zimmers kotzen. Vielleicht würde das Ives mal das ewig gleiche Lächeln aus dem Gesicht wischen. Arik versuchte nicht darüber nachzudenken, wie erbärmlich es war, dass dieser Gedanke ihn tatsächlich etwas aufmunterte.
„Da sind wir", verkündete Ives wenig später und bleib vor einem ganz besonders düster anmutendem Haus stehen. Der Vorgarten verdiente nicht als solcher bezeichnet zu werden. Bäume und Büsche rangen dort um Platz und sprengten beinahe den brusthohen Holzzaun. Nur ungern gestand Arik sich ein, dass das Ganze einen gewissen Charme hatte. „Wohnt ihr Zwei hier ganz alleine?", wollte Mo wissen und legte den Kopf in den Nacken. Sie musterte das Haus von oben bis unten. „Nur wir Zwei", bestätigte Ives, „Im Winter halten wir uns allerdings oft nur unten auf, weil die Heizung oben nicht richtig funktioniert."
Galant öffnete er die ramponierte Gartenpforte und ließ Mo den Vortritt. Als Arik sich nicht vom Fleck bewegte, vollführte er eine einladende Geste, gefolgt von einer kleinen Verbeugung. Grummelig folgte Arik der Einladung. Es fühlte sich endgültig an, als er die Grundstücksgrenze übertrat. Für diesen Abend hatte er seine Chance verpasst, der ganzen Sache doch noch irgendwie zu entgehen. „Du bist echt ziemlich schüchtern, oder?", fragte der Mann hinter ihm ihn leise, so dass Mo, die vor der Haustür wartete, ihn nicht hören konnte. Arik wandte sich zu ihm um. Zu seiner Überraschung war Ives so nah an ihn heran getreten, dass er aufblicken musste, um ihm in die Augen sehen zu können. Bis jetzt war ihm nicht aufgefallen, dass Ives größer war als er selbst.
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Rabenbrüder
Paranormal„Wenn du einem Raben zu lange in die Augen blickst, nimmt er sich deine Seele und fliegt damit davon." Mit dieser dramatischen Warnung treten die Brüder Ives und Juri in das eintönige Leben der 17-jährigen Mo und ihres besten Freundes Arik. Auch wen...