IX.

61 11 9
                                    

IX.

(Mo)

Mit geschlossen Augen lag Mo auf dem Sofa und ließ sich von den Tönen des Klaviers davontragen. Entgegen ihrer Erwartung beherrschte sie Au Clair De La Lune mittlerweile zumindest einhändig, wenn auch mit gelegentlichen Pausen und der ein oder anderen falsch gespielten Note. Juri hatte ihr versichert, dass dies für einen einzigen Tag schon eine gute Leistung war, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er ihr nur schmeichelte, damit sie sich nicht schlecht fühlte. Irgendwann war sie nämlich so unkonzentriert geworden, dass sie für heute mit dem Spielen aufgehört hatten.

Auch wenn Mo sich nicht daran erinnern konnte, dass es einen konkreten Auslöser gegeben hatte, war die Stimmung zwischen ihnen danach irgendwie komisch geworden. Vielleicht weil keiner von ihnen in Ives' und Ariks Abwesenheit noch wusste, worüber sie reden sollten. Anders als mit Arik, mit dem sie manchmal ganze Tage verbrachte, ohne mehr als das Nötigste zu reden, fühlte sich das Schweigen zwischen ihr und Juri schwer und drückend an. Als er sie gefragt hatte, ob es sie störte, wenn er ein bisschen spielte, hatte sie darum erleichtert verneint.

Mittlerweile hatte sie jegliches Gefühl für Zeit verloren und fühlte sich angenehm leer und ruhig. Dann, ohne Vorwarnung, hörte Juri zu spielen auf. Die Stille rauschte in ihren Ohren. Voll bedauern öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Es überraschte sie nicht, dass er ihr direkt in die Augen sah. „Was ist?", fragte sie in einer Stimme, die nicht ihre eigene war. Sie rieb sich die Augen und versuchte zu sich selbst zurück zu finden, „Tut mir leid. Ich bin ein bisschen weggetreten." In der Hoffnung, die Trägheit aus ihren Gliedern vertreiben zu können, verschränkte sie die Finger und streckte sich ausgiebig.

„Ich finde übrigens, dass dein Bruder recht hat", sagte sie, da er trotz ihrer Frage weiter stumm geblieben war. „Womit?", fragte Juri verwirrt. „Damit, dass du gut genug spielst, um ein Profi zu sein. Nicht, dass ich besonders viel Ahnung von diesen Sachen hätte", gestand sie. Er lächelte verlegen und rieb mit den Fingerspitzen über die Seite seines Halses. „Danke", sagte er schließlich. „Hast du schon mal darüber nachgedacht? Also darüber, dein Hobby zum Beruf zu machen?", fragte sie. Nachdem sie fast einen ganzen Tag mit ihm verbracht hatte, fragte sie sich ernsthaft, warum er keinen Beruf ergriffen hatte, der seinen musikalischen Neigungen entsprach. Und wenn er nur irgendwelchen wohlhabenden Kindern das Klavierspielen beibrachte. Stattdessen machte er all diese kleinen Gelegenheitsjobs, von denen sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie sonderlich gut bezahlt wurden.

Juri stieß einen tiefen Seufzer aus. „Mehr als nur einmal", antwortete er und sein Blick glitt an irgendeinen Punkt über ihr ab. Sie spürte, dass er eigentlich nicht weiter darüber sprechen wollte. „Aber so schmeichelhaft deine und Ives' Meinung von der Qualität meiner Fähigkeiten auch sein mögen, glaube ich nicht, dass ich in der Realität tatsächlich gut genug bin. Außerdem gibt es leider gewisse Umstände, die eine Umsetzung, sagen wir mal, schwierig machen", fügte er hinzu. Mo nickte und beließ es dabei. Sie kannten sich noch nicht einmal 24 Stunden und sie verstand, dass er mit ihr über manche Dinge nicht sprechen wollte oder konnte.

„Was ist mit dir? Was wirst du machen, wenn du erst aus der Schule raus bist?", fragte er. Natürlich musste er ihr ausgerechnet diese Frage stellen. Sie blies ihre Wangen auf, um Zeit zu schinden. „Mir eine furchtbar langweilige Ausbildung suchen, in eine furchtbar langweilige Wohnung ziehen und ein furchtbar langweiliges Leben führen?", antwortete sie und versuchte zu lächeln. „Meinst du das ernst?", fragte Juri. Sie hob die Schultern und ließ sich wieder auf das Sofa fallen. „Keine Ahnung. Was soll sonst passieren? Ich bin langweilig, mein bisheriges Leben war langweilig und ich weiß nicht, warum sich das ändern sollte, nur weil ich meinen Schulabschluss mache", sie seufzte. Dann schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. „Euch beiden begegnet zu sein, ist das aufregendste, das mir in den letzten Monaten passiert ist. Manchmal vergesse ich, wie sich lebendig zu sein anfühlt. Und dann passieren solche Sachen wie gestern und ich erinnere mich wieder daran", sie hielt inne. „Das klang jetzt sehr melodramatisch, oder?", fragte Mo an die Decke gerichtet und lachte.

RabenbrüderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt