XVII.
(Mo)
„Noch einmal von vorne. Und gib dieses Mal auf deinen Mittelfinger acht", wies Juri Mo an. Sie warf ihm einen leidenden Blick zu. Ein Lächeln zog an Juris Lippen und er stieß sie mit der Schulter an. „Sieh mich nicht so gequält an", lachte er, „Du hast dir das selbst ausgesucht. Einmal noch und danach machen wir eine Pause" Mo lies den Atem aus ihren Lungen entweichen und fuhr sich durch die Haare. „Tut mir leid. Ich bin heute echt unkonzentriert", entschuldigte sie sich, bevor sie die Schultern strafte und ihre Hände wieder in der richtigen Anfangsposition auf die Tasten legte. Im Vergleich zum letzten Mal schien sie heute nur Rückschritte zu machen. Mittlerweile hatte sie das Gefühl, mehr falsche als richtige Töne zu treffen.
„Das macht doch nichts", antwortete Juri. Obwohl Mo sich sicher war, dass es sich bei dieser Antwort um eine höfliche Lüge handelte und ihm von ihrem Geklimper längst die Ohren schmerzten, ging sie nicht weiter darauf ein, sondern versuchte sich stattdessen zu konzentrieren. Leider konnte sie das Zusammentreffen mit der Frau am Vormittag einfach nicht aus ihren Gedanken vertreiben.
Bis jetzt hatte sie sich nicht durchringen können, Juri nach der eigenartigen Frau zu fragen. Was sie sich vor ein paar Stunden als eine einfache Frage vorgestellt hatte, war auf dem Rest des Weges zu einer echten Herausforderung heran gewachsen. Rückblickend kam ihr der gesamte Wortwechsel lächerlich und unzusammenhängend vor. Falls die Frau nicht tatsächlich zum Bekanntenkreis der Brüder gehörte, würde Juri sie für bekloppt halten, wenn sie ihm von dem Gespräch erzählte.
„Erde an Mo?", fragte Juri und tippte ihr auf den Arm. Ihr wurde bewusst, dass er sie schon eine ganze Weile von der Seite her anstarrte. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Entschuldigung. Ich war in Gedanken woanders." „Ist mir aufgefallen", grinste er und erhob sich. „Planänderung: Lass' uns erst einmal kochen. Wenn man sich zu sehr darauf versteift, alles richtig zu machen, macht man nur noch mehr Fehler. Das ist ganz normal." Sie nickte, insgeheim erleichtert, dass sie sich nicht ein weiteres Mal mehr schlecht als recht durch Au Clair De La Lune hindurch klimpern musste.
Sie steckte sich und versuchte erfolglos das Gefühl der Anspannung aus ihren Schultern zu schütteln, bevor sie Juri in die Küche folgte. „Was gibt es heute denn Leckeres?", fragte sie neugierig, bekam aber nur ein mysteriöses Lächeln zur Antwort. Ungeduldig sah sie ihm dabei zu, wie er die Zutaten für ihr Mittagessen auf dem kleinen Tisch stapelte: Ein Paket Mehl, Hefe, Zwiebeln, Champignons, Rucola und eine rote Paprika. „Pizza?", fragte Mo, doch Juri schüttelte den Kopf. Erst ganz zum Schuss stellte er auch noch einen Becher mir Saurer Sahne neben die anderen Lebensmittel. „Flammkuchen?!", rief sie aus und sein Gesichtsausdruck verriet ihr sofort, dass sie dieses Mal richtig gelegen hatte. „Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast", fügte er hinzu. Mo lachte und schnappte sich die Pilze und ein Brett. „Ich finde die Idee großartig", versicherte sie ihm. Sichtlich zufrieden mit dieser Antwort machte Juri sich daran, den Teig zu zubereiten.
Während sie kochten, schweiften Mos Blicke immer wieder ungebeten Juris generelle Richtung ab. Er war ganz in seinem Element und verrichtete seinen Teil der Arbeit mindestens doppelt so schnell wie Mo. Sie konnte nicht anders, als ihn um die routinierten Handgriffe zu beneiden. Normaler Weise war es ihr ziemlich egal, dass sie legendär inkompetent im Kochen war. Johanna hatte einmal im Scherz gesagt, sie würde mit ihren unterdurchschnittlichen Kochkünsten nie einen Freund finden, doch Mo hatte erwidert, dass sie, wenn es an solchen Kleinigkeiten scheitern sollte, lieber ihr ganzes Leben lang single bleiben würde.
Heute allerdings ertappte sie sich zum ersten Mal dabei wie sie sich wünschte, ein bisschen weniger ungeschickt im Kochen zu sein. Erneut sah sie zu Juri hinüber. Mit seinem sanften Wesen und seinen beeindruckenden Kochkünsten war er vermutlich ziemlich beliebt. Dass er auch noch Klavier spielen konnte, musste seine Chancen in Sachen Liebe vermutlich sogar noch vergrößern. Als sie merkte in welche Richtung ihre Gedanken abzurutschen drohten, unterbrach sie sich selbst. Leider schaffte sie es nicht, ihren Blick wieder auf ihr Schneidebrett zu richten, bevor Juri sich umdrehte. Ihre Blicke trafen sich. Natürlich. War ja klar, dass ihr das passieren musste.
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Rabenbrüder
Paranormal„Wenn du einem Raben zu lange in die Augen blickst, nimmt er sich deine Seele und fliegt damit davon." Mit dieser dramatischen Warnung treten die Brüder Ives und Juri in das eintönige Leben der 17-jährigen Mo und ihres besten Freundes Arik. Auch wen...