XVI.
(Arik)
„Welches von denen brauchst du?", flüsterte Ives und löste langsam die Schnallen der Kameratasche. „Das Teleobjektiv. In der langen, schwarzen Röhre", raunte Arik und reichte ihm das Objektiv, das er gerade abgeschraubt hatte. Es hatte etwas Komisches an sich, wie sie beide auf einem Feldweg mitten im Nirgendwo standen und sich nur in Zeitlupe bewegten. Arik nahm das Teleobjektiv, das Ives bereits vorsichtig aus seiner Schutzhülle heraus geholt hatte, an sich und warf einen prüfenden Blick zu dem Turmfalken, der in einiger Entfernung im Wipfel eines Baumes hockte und Ausschau hielt. Wie immer zu solchen Gelegenheiten, zitterten seine Finger vor Aufregung. Er zwang sich, ruhig in den Bauch zu atmen, nahm einen festen Stand ein und nahm den Turmfalken ins Visier.
Mit seinem rötlichen Gefieder hob er sich gut vom Blau des Himmels im Hintergrund ab. Die dunklen Augen und der kleine Schnabel hatten etwas unheimlich Elegantes, Zierliches an sich. Arik machte einige Aufnahmen. Hoch oben, auf seinem Ausguck, merkte der Falke auf und öffnete die Schwingen. Irgendetwas auf dem Erdboden hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Arik gelang es ein paar Bilder zu machen, während sich der Vogel in die Lüfte erhob und er hoffte inständig, dass zumindest eines von ihnen scharf sein würde.
„Er hätte ruhig noch fünf Minuten länger sitzen bleiben können!", empörte Ives sich und half Arik das Objektiv zurückzutauschen. „Ich kann es kaum erwarten, die Bilder später auf einem großen Bildschirm zu sehen. Er war wirklich unfassbar schön. Schade, dass er nicht sitzen geblieben ist, sonst hättest du ihn dir auch ansehen können", Arik sah gerade rechtzeitig auf, um den beleidigten Ausdruck zu bemerken, der sich auf Ives Züge gelegt hatte. „Ich finde Raben viel schöner als diese arroganten Turmfalken", erklärte er und schulterte die Kameratasche. Obwohl er bereits einen großen Rucksack trug, hatte er darauf bestanden, auch noch die Kameratasche zu tragen. Arik grinste, „Hat der andere Rabe eigentlich auch einen Namen?" „Hm?", machte Ives unkonzentriert und sah ihn an. Das Sonnenlicht verfing sich in seinen Wimpern. Arik verlor für einen Moment den Faden.
„Juri, also Rabe Juri, folgt Mo und mir manchmal. Und da ist noch ein zweiter Rabe. Die beiden scheinen sich gut zu verstehen. Ich habe gedacht, dass die beiden vielleicht ein Paar sind. Raben sollen ja monogam sein." Ives grunzte und es dauerte ein paar Sekunden, bis Arik begriff, dass er lachte. „Schön, dass du dich so prächtig amüsierst", sagte Arik beleidigt. „Tut mir leid", sagte Ives, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Erzählst du mir zumindest, was ein meiner Frage zu witzig war?" „Das erzähle ich dir, wenn du älter bist." „Das macht überhaupt gar keinen Sinn", beschwerte Arik sich und beeilte sich Ives, der weitergegangen war, zu folgen. „Du hast mich ertappt. Was wirst du jetzt tun? Mich festnehmen?" Arik rollte mit de Augen. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass du mich überhaupt nicht ernst nimmst", beschwerte er sich mit gespielter Empörung.
Bevor er etwas erwiderte, sah Ives ihn kurz an, wie um sicher zu stellen, ob er scherzte oder die Beschwerde erst meinte. „Das Leben ist zu ernst, um es ernst zu nehmen", verkündete er.
„Meintest du nicht eher ‚zu kurz, um es erst zu nehmen'?"
„Wenn ich das gemeint hätte, hätte ich es auch so gesagt, meinst du nicht?"
Arik fühlte sich kurz in eine Szene aus Alices Abenteuer im Wunderland versetzt. „Warum ist ein Rabe wie ein Schreibtisch?", zitierte er spontan. Ives sah ihn kurz an, als hätte er den Verstand verloren. Dann kroch ein breites Grinsen auf seine Lippen.
„Ich sehe, wir verstehen uns", sagte er harkte sich bei ihm unter.
„Ach tun wir das?", fragte Arik. Er bemühte sich um einen fragenden Gesichtsausdruck, brachte aber nur ein Lächeln zustande.„Wir sind gleich da", Ives schenkte ihm einen kritischen Seitenblick. „Ich könnte dir die Augen verbinden", schlug er vor. „Wenn du mich danach mit einem gebrochenen Knöchel ins Krankenhaus fahren möchtest", erwiderte Arik und dachte an Mo. Zwischenfälle dieser Art lagen eher in ihrem Bereich der Expertise. Vor zwei Jahren hatte sie sich eine Schulter ausgekugelt, als sie zusammen auf einen Baum geklettert waren, um Fotos von einem Feld aus einer erhöhten Position zu machen. Im Nachhinein hatte er sich schreckliche Vorwürfe gemacht.
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Rabenbrüder
Paranormal„Wenn du einem Raben zu lange in die Augen blickst, nimmt er sich deine Seele und fliegt damit davon." Mit dieser dramatischen Warnung treten die Brüder Ives und Juri in das eintönige Leben der 17-jährigen Mo und ihres besten Freundes Arik. Auch wen...