V.
(Mo)
Unter dem Einfluss des Alkohols vernebelten sich Mos Gedanken zunehmend. Nachdem sie den ersten Liter Glühwein in Rekordzeit getrunken hatten, war der Zweite dem Ersten schnell gefolgt. Ives hatte darauf hin nach ein paar Flaschen Bier und Cola geholt und sie hatten den Wodka angebrochen. Es war kein gutes Zeichen, dass Mo nicht mehr genau wusste, was, und vor allem wie viel, sie getrunken hatte.
Sie hatten zur Unterhaltung einen Film angemacht, doch keiner der Anwesenden hatte ihm Beachtung geschenkt. Stattdessen hatten sie über alles mögliche geredet, auch wenn Mo sich schon jetzt an die Hälfte nicht mehr erinnern konnte. Sie hatten eine ganze Weile über ihre Lieblingsbücher und bevorzugten Autoren gesprochen, ein Thema, dass Mo in voller Absicht gewählt hatte, in der Hoffnung, dass Arik ein bisschen auftauen würde. Leider hatte er nur zugehört und sich an seinem Glas festgehalten. Weil sie sonst immer unter sich blieben, kannte sie diese Seite an ihm nicht.
Irgendwann waren sie dann vom Thema abgekommen und hatten angefangen, über sich und ihre anderen Hobbys zu sprechen. Trotz des Nebels in ihrem Kopf war ihr dabei nicht entgangen, dass keiner der beiden Brüder ihre Fragen beantwortete, wenn sie auf Ereignisse anspielten, die mehr als drei oder vier Jahre in der Vergangenheit lagen. Immer wenn sich das Gespräch in diese Richtung bewegte, stellten die Brüder schnell eine Gegenfrage oder wichen ungeschickt aus. Mo machte sich aber keine Sorgen deswegen. Es gab genug Dinge in ihrem eigenen Leben, über die sie selbst nicht sprechen wollte.
Im Laufe des Abends hatte sie in Erfahrung gebracht, dass die Brüder vor etwa drei Jahren in diese Stadt gekommen waren und das Haus, in dem sie wohnten, einem Bekannten gehörte. Die berufliche Situation der beiden schien etwas abenteuerlich zu sein. Ives hatte bis vor Kurzem am anderen Ende der Stadt in einer Autowerkstatt gearbeitet, deren Besitzer jetzt aber in Rente war. Zum Abschied hatte er ihm eines der Autos geschenkt, die sie gemeinsam in der Werkstatt restauriert hatten, wenn es einmal nicht so viel zu tun gab. Mo hoffte, dass sie den Wagen bald zu Gesicht bekommen würde. Sie verstand nicht viel von Autos, darum wusste sie nicht, was sie sich unter einem 1983er Datsun Bluebird vorzustellen hatte. Aber wenn das Leuchten in Ives irgendein Indikator war, musste der Wagen etwas ganz Besonderes sein.
Juri hingegen arbeitete offenbar nur von zu Hause aus. Je nachdem was sich ergab, schrieb er alle Möglichen Texte von Gebrauchsanleitungen zu Werbetexten, programmierte Webseiten und fertigte Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen an. Mo war ein kleines bisschen enttäuscht gewesen zu erfahren, dass das Klavier Juri und nicht Ives gehörte. Nach Aussage seines Bruders spielte Ives wie ein besoffener, einarmiger Pirat. Wenn man Ives hingegen glauben durfte, war Juri der reinste Virtuose und gut genug, um ein Konzertpianist zu werden, was Juri selbst mit hochrotem Kopf bestritten hatte.
„Und ihr?", fragte Ives irgendwann, „Wenn ihr gerade nicht lest, oder im Unterricht festsitzt, was treibt ihr dann so?" Die Frage war nicht nur an Mo, sondern auch an Arik gerichtet, doch der hatte sich mit einem verstohlenen Blick am Inhalt eines der Bücherregale vergriffen und war gerade ganz weit weg. „Videospiele spielen, Musik hören", sagte sie und fühlte sich schlecht, weil es langweilig klang. „Arik fotografiert gerne", fügte sie noch hinzu und zuckte mit den Schultern. „Wir sind in der Theater AG unserer Schule", verkündete Arik unvermittelt und legte sein Buch in seinen Schoss. Er schaffte es irgendwie den Satz so klingen zu lassen, als spräche er über etwas Positives. „Ich selbst bin ein hoffnungsloser Fall, aber Mo ist ganz gut", behauptete er und ignorierte ihr entrüstetes Grunzen.
„Übt ihr gerade ein Stück ein?", wollte Juri sofort wissen. Mo verzog das Gesicht, „Ja. Für Weihnachten. Eine moderne Interpretation von Schwanensee für die Theaterbühne. Zum Glück fast ohne alberne Tanzeinlagen. Dafür sind unsere Kostüme alle weiß mit Federn daran." Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Getränk, um nicht weiter daran denken zu müssen. „Könntest du vielleicht noch ein bisschen abfälliger klingen? Das hört sich ja geradezu danach an, als würde es sich dabei um den Vorhof der Hölle handeln!", kicherte Ives und verschluckte sich fast an seinem Bier. „Es ist der Vorhof zur Hölle. Mein ganz privates Fegefeuer", murmelte Mo und vermied es zu Arik zu sehen. Sie wusste, dass er für immer und drei Tage eine schlechtes Gewissen wegen der ganzen Sache haben würde.
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Rabenbrüder
Paranormal„Wenn du einem Raben zu lange in die Augen blickst, nimmt er sich deine Seele und fliegt damit davon." Mit dieser dramatischen Warnung treten die Brüder Ives und Juri in das eintönige Leben der 17-jährigen Mo und ihres besten Freundes Arik. Auch wen...