XII.
(Arik)
Vertrautes Flügelschlagen kündigte die Ankunft eines Rabens an. Arik sah vom Display seines Mobiltelefons auf, als der Vogel sich auf dem Ast des Baumes niederließ, unter dem er an Schultagen auf Mos Ankunft wartete. Arik schob sich die Brille auf die Nase und sah den Neuankömmling mit zusammengekniffenen Augen an. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch das bläuliche Licht der Dämmerung reichte bereits aus, um den Vogel sehen zu können. „Guten Morgen, Nicht-Juri“, sagte er und der Vogel krächzte anerkennend, bevor er sich vom Ast fallen ließ, und zielsicher auf seiner Schulter landete. Arik wagte es kaum sich zu rühren.
Am Dienstag hatten Mo und er festgestellt, dass ihnen nicht nur Juri, sondern auch noch ein anderer Rabe nachstellte. Während sie vor der Aula gestanden und sich unterhalten über das unterhalten hatten, was Herr Wenzel mit Mo hatte besprechen wollen, waren in kurzen Abständen zwei Kolkraben in ihrer Nähe gelandet. Mo hatte in dem Größeren der beiden sofort Juri erkannt. Als sie seinen Namen rief, hatte dieser seinen Schnabel an einem Ast gewetzt und leise gerufen, ganz wie zum Gruß. Sein gefiederter Begleiter hingegen hatte einen chronisch gelangweilten Eindruck gemacht, der Arik glauben ließ, dass er der Vogel gewesen musste, der ihm am Montag nach dem Sportunterricht aufgelauert hatte. Befremdlicher Weise waren beide Vögel ihnen ernst bis zu ihren Fahrräder gefolgt und hatten sich dann den ganzen Rückweg in ihrer Nähe herum getrieben.
Auch wenn Arik durch eine kurze Recherche im Internet herausgefunden hatte, dass Kolkraben zu den intelligentesten Vögeln Europas zählten und die Wissenschaft davon ausging, dass sie die Gesichter von Menschen wiedererkennen konnten, konnte er sich keinen Reim darauf machen, weshalb der zweite Rabe sich ebenfalls für sie zu interessieren schien. Vielleicht dachte er, dass sie ihn füttern würden, so wie Ives Juri vermutlich fütterte. Oder aber Ives hatte beide Vögel darauf abgerichtet, Mo und ihm nachzuspionieren. Natürlich war Arik sich bewusst, wie lächerlich diese Theorie war.
Der Rabe auf seiner Schulter zog sanft an seinen Haaren, krächzte und putzte sich dann das Gefieder. Spontan fühlte Arik sich an Edgar erinnert, der ebenfalls gerne auf ihm Platz nahm, um sich dann das Fell zu lecken. Kein Tier, das es nicht gewohnt war, sich in der Gesellschaft von Menschen aufzuhalten, würde seine Deckung auf diese Art fallen lassen. Er nahm sich vor, Ives zu fragen, ob er mehr über diesen zweiten Raben wusste. Für den Moment jedoch beschäftigte ihn eher die Frage, wo Mo so lange blieb.
Er machte gerade Anstalten, sein Smartphone hervorzuziehen, da hörte er den Ruf eines Raben aus der ungefähren Richtung, aus der Mo immer kam. Der Vogel auf seiner Schulter sah aufmerksam auf. Da ihn die Ahnung beschlich, dass Mo heute morgen ebenfalls eine schwarz gefiederte Eskorte an ihrer Seite hatte, machte Arik sich sich abfahrbereit. Tatsächlich musste er nicht lange warten, bis Mo um die Ecke gerast kam, als sei der Teufel persönlich hinter ihr her. Weit über ihr zeichnete sich die Silhouette eines großen Vogels gegen den Morgenhimmel ab. „Sorry“, rief Mo schon von weitem. Ihr Haar war zerzaust und ihre Wangen waren rosa vor Anstrengung.
Arik passte den richtigen Moment ab, loszufahren, so dass sie nicht abbremsen musste. Er hatte damit gerechnet, dass der Rabe losfliegen würde, doch dieser blieb wie ein störrischer Flottenadmiral auf seiner Schulter sitzen und krallte sich fest. „Hey, ich bin kein Taxi“, empörte Arik sich. Der Rabe quittierte die Beschwerde mit einem Krächzen, ließ sich dann doch noch dazu herab, wegzufliegen.
„Diese Raben verhalten sich wirklich nicht normal“, rief Mo ihm zu, nachdem er es endlich geschafft hatte, zu ihr aufzuschließen. Der Fahrtwind biss ihm empfindlich in die Ohren. Das Wetter war ungemütlich geworden. Vom Schnee war, zu Ariks Bedauern, kaum noch etwas übrig und der Himmel sah verdächtig nach Regen aus. „Tut mir übrigens leid, dass ich so spät bin“, entschuldigte Mo sich, „Meine Mutter hat sich heute morgen das Badezimmer unter den Nagel gerissen und die Tür abgeschlossen. Vermutlich als Erziehungsmaßname.“ „Wieder der Streit um die morgendliche Badezimmernutzung?“, fragte Arik ungläubig. Da er morgens eine halbe Stunde vor seiner Tante aus dem Haus ging, kannte er diese Art von Problemen nicht.
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Rabenbrüder
Paranormal„Wenn du einem Raben zu lange in die Augen blickst, nimmt er sich deine Seele und fliegt damit davon." Mit dieser dramatischen Warnung treten die Brüder Ives und Juri in das eintönige Leben der 17-jährigen Mo und ihres besten Freundes Arik. Auch wen...