Portrait (pausiert)

2. Kapitel

Diesmal habe ich keine Angst davor, aus dem Krankenhaus zu kommen, eher im Gegenteil, ich fiebere auf den Tag hin, an dem ich endlich entlassen werde.
Fast ein halbes Jahr haben sie mich dortbehalten, bis sie vor kurzem endlich keinen Grund mehr hatten.
Die Wunde ist verheilt, den Schock habe ich überstanden, und sämtliche Sportstunden habe ich ebenfalls hinter mir.
„Und hier kommt sie, nachdem sie ganze sechs Monate verschollen war: Amari Ginsers!"
Lucia hüpft grinsend vor mir auf und ab.
„Genau so komme ich mir vor", seufze ich.
Sechs Monate können so wenig sein, wenn man in der Schule ist, dauernd beschäftigt wird.
Oder aber unglaublich viel, wenn einem so oft langweilig ist, man von der Welt abgeschnitten wird, um gesund werden zu können.
Nur an Fotografie-Zeitschriften haben sie mich gelassen, mir regelrecht aufgedrängt, und doch habe ich das Gefühl, als hätte ich alles wieder verlernt.
Lucia hat mich mit den wichtigsten Nachrichten versorgt.
Ich habe verpasst, wie Donald Trump Präsident wurde.
Ich habe verpasst, wie Pentatonix ihren dritten Grammy gewonnen haben.
Ich habe Avis Geburtstag verpasst.
Aber all das interessiert mich so herzlich wenig, nachdem Lucia mir ein Video gezeigt hat.
Das Video.
In welchem Avi der Welt mitteilt, was er vor über einem halben Jahr schon mir anvertraut hat.
Er wird Pentatonix verlassen, hat schon angefangen, seine eigene Musik zu veröffentlichen.
Genau wie Kirstie.
Und Kevin.
Und Scott und Mitch.
Die im Übrigen auch ihr Buch auf den Markt gebracht haben.
Beinahe fühle ich mich fremd, als wir durch die Straßen nach Hause laufen, als hätte ich verschlafen.
Die Zeit ist ohne mich verronnen, und das bekomme ich zu spüren, habe keine Ahnung mehr, was wirklich aktuell ist.
„Habe ich schon erzählt, dass wir morgen einen Ausflug machen?", grinst Lucia, während sie klingelt.
„Nur, weil ich wieder aus dem Krankenhaus zurück bin, müssen wir nicht gleich wieder voll durchstarten", lache ich.
Lucias Pläne können unmöglich sein.
„Ich verspreche dir, niemand wird zu Schaden kommen. Vor allem du nicht, du Schwerverletzte."
Leon öffnet uns die Tür.
Seitdem er mir erklärt hat, welche Rolle er in meinem aus dem Ruder geratenen Leben spielt, hat er mich oft besucht, und wir haben langsam angefangen, eine dünne Bindung aufzubauen.
„Willkommen zu Hause", lächelt er und umarmt mich, bevor er uns an ihm vorbei in den Flur lässt.
„Julia ist noch in der Oper. Sie hat eine neue Hauptrolle. Aber ich habe uns Kuchen geholt", erklärt er, bevor er ins Esszimmer geht.
„Essen! Gott sei Dank, ich habe schon gedacht, dass ich mich in Zukunft nur noch von dem Fraß im Krankenhaus ernähren werde", seufze ich erleichtert.
Nach Avi und Kevin war ich wahrscheinlich diejenige auf Tour, der Essen am wichtigsten war.
„So schlimm kann das gar nicht sein", meint Lucia.
„Du isst auch alles", sage ich augenverdrehend und folge Leon.
„Das stimmt gar nicht", protestiert meine beste Freundin schwach, doch sie weiß, dass ich recht habe.
Egal, ob es Schulessen war, oder das unglaubliche gute Essen ihrer Mutter – Lucia hat es gegessen, als wäre es das Beste der Welt.
„Oh mein Gott, ihr seid die besten Menschen überhaupt!", rufe ich begeistert, als ich den Kuchen sehe, welcher auf dem Tisch steht.
Noch bevor ich wusste, dass es einen Kuchen gibt, der Kirschen, Schokolade und viel Sahne vereint, habe ich diese Kombination unglaublich gerne gegessen.
Und als ich zum ersten Mal Schwarzwälder Kirsch auf einem Schild in der Konditorei gesehen habe, habe ich mich sofort verliebt.
„Das wissen wir", sagt Lucia bescheiden. Wenige Sekunden später grinst sie breit. „Ich bin so froh, dass du wieder zurück bist. Und lebst. Und dass ich mit meinen Prüfungen durch und jetzt ein freier Mensch bin."
„Jetzt können wir beide nach Amerika und Pentatonix stalken", lache ich.
Um nur wenige Sekunden später zu bemerken, wie ernst ich das eigentlich meine.