9. Kapitel

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Nachdem Lucia mich abends wieder nach Hause gebracht hat, will ich mich einfach in mein Bett legen, alleine sein, weinen und kitschige Filme schauen, während ich heiße Schokolade trinke.
Und doch schaffe ich es irgendwie, die Bilder auf meinen Laptop zu übertragen und Foto für Foto auszusortieren.
Dass das meine Stimmung nicht gerade bessert, merke ich erst, als eine Träne auf meiner Hand landet.
Ich vermisse Amerika.
Ich vermisse es, mit Pentatonix auf Tour zu sein, Fotos zu machen, Spaß zu haben.
Ich vermisse Esther und Phips und Scömìche und Kirvin.
Sogar Amavi vermisse ich.
Wahrscheinlich am meisten.
Ich klappe meinen Laptop zu und schnappe mir mein Handy.
Eigentlich dachte ich, dass es leicht sein würde, Mitch jetzt zu schreiben, locker, wie immer, doch ich muss einige Minuten überlegen.

Haltet mich nächstes Mal auf, wenn ich so viele Fotos von euch mache

Es hört sich so leicht an, so unverfänglich, und es steht so im Kontrast zu dem, was ich gerade fühle.

Kann man dir beim Aussortieren helfen?

Nachdem ich Mitchs Antwort gelesen habe, kommt mir ein Gedanke, und ich schicke ihm die Adresse meiner Wohnung.
Der Wohnung meiner Mutter.
„Ich gehe noch mal raus, könnte später werden!", rufe ich, in der Hoffnung, dass mich irgendjemand gehört hat, bevor ich mir die Schlüssel, meinen Laptop und die Kameras schnappe und die Tür hinter mir zuziehe.
Der Weg ist nicht so weit, wie ich dachte, und ich bin schneller da, als mir lieb ist.
Anders als gestern im Wald riecht die Luft nicht nach Frühling, sondern nach Stadt, ist beinahe einengend, und doch würde ich viel lieber draußen stehen bleiben, mich doch davor drücken, die Wohnung zu betreten.
Was habe ich mir dabei gedacht, Mitch und Scott hierher einzuladen?
Ich werde zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder dort sein, und ich weiß genau, dass mich die Emotionen überwältigen werden.
„Hey!"
Mitchs hohe Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
Schnell setze ich ein Lächeln auf und umarme die beiden zur Begrüßung, bevor ich die Tür öffne.
Meine Hand zittert, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke, und ich kann nur hoffen, dass sie es nicht sehen.
Der Raum, in welchem wir nun stehen, ist nüchtern eingerichtet, nahezu unpersönlich.
Es ist klar erkennbar, dass jemand hier war und geputzt hat, die Möbel aus ihrem Schlaf gerissen, und das kann noch nicht mal lange her sein, denn die Oberflächen sind noch immer staubfrei.
Nachdem wir unsere Schuhe brav in das kleine Regal gestellt haben, gehen wir in das Wohnzimmer.
Ich schlucke die Erinnerungen hinunter, die in mir hochkommen, und deute auf das hellblaue Sofa.
„Fühlt euch wie Zuhause. Ich bin sofort wieder da."
Die gläserne Schiebetür zur Küche ist offen, und ich trete schnell in den Raum, um tief durchatmen zu können.
Doch dann fällt mir der große Karton auf, der neben der Arbeitsfläche in der Mitte der Küche steht.
Auf der Fläche liegt ein kleiner Zettel, eng beschrieben, und auf dem Blatt ein kleiner Schlüsselbund.
„Amari? Lebst du noch?", höre ich Scotts Stimme.
Ich nicke nur, nehme an, dass er mich durch die Tür sehen kann, während ich den Zettel in die Hand nehme.

Strom und Wasser müssen noch im Bad angeschaltet werden, das findest du im Schrank, ist eigentlich selbsterklärend. Bei Fragen gerne melden, meine Nummer steht unten. Ich komme jeden Donnerstag vorbei und mache sauber, du kannst mich sonst auch so ansprechen. In der Kiste sind sämtliche Gegenstände, die hier noch herum lagen, abgesehen von Klamotten und Geschirr (gespendet bzw. in den Schränken hier).

Bittere Enttäuschung keimt in mir auf, als ich die Worte lese.
Natürlich kommt regelmäßig jemand, um sauber zu machen.
Natürlich ist die Nachricht nicht sechzehn Jahre alt und von meiner Mutter.
Ich bücke mich und öffne den Karton, weiß, dass es eine schlechte Idee ist, alles in mir schreit, dass ich wieder zu Mitch und Scott gehen soll.
Und doch werfe ich einen Blick in die Kiste, die meine Vergangenheit birgt.


Portrait (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt