11. Kapitel

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Als wir am nächsten Morgen beim Frühstück sitzen, komme ich mir vor wie bei einem Familienurlaub.
Fast wünsche ich mir Lucia herbei, einfach, um kein Einzelkind mehr zu sein.
Scott hat mich heute Morgen vorsichtig geweckt, fast so, als hätte er Angst, dass ich noch zu müde sei.
Anders als Mitch war ich jedoch sofort hellwach.
Ich verstehe nicht mehr, wie ich diese Seite von ihnen nie entdecken konnte, wie ich nie den Beschützerinstinkt in den Augen von Mitch und Scott erkannt habe, der gerade auch mir gilt.
„Danke wegen gestern", sage ich, vollkommen unvermittelt, und sofort liegen zwei verblüffte Blicke auf mir.
Sie haben eindeutig nicht damit gerechnet, dass ich in näherer Zukunft darüber reden würde, was gestern passiert ist.
„Das war doch selbstverständlich", meint Scott.
„Du hättest uns einfach sagen sollen, dass du noch nicht bereit bist, da hin zu gehen. Wir hätten dich auch gleich hier aufgenommen."
Mitch zuckt mit den Schultern, als wäre es das Normalste der Welt, einfach jemanden über Nacht in ihrem Zimmer schlafen zu lassen.
„Wie wäre es, wenn wir nach dem Essen zu Starbucks gehen und uns die Bilder anschauen?", schlägt Scott vor.
Verwirrt über den plötzlichen - und vor allem so leichten - Themenwechsel stimme ich zu.
Und dann verstehe ich, dass sie mir Zeit lassen wollen, all das alleine zu verarbeiten.
Sie haben mich auf der Tour besser kennengelernt, als ich dachte.

Auf dem Weg zu dem Café verstehe ich zwar immer noch nicht ganz, wieso wir direkt nach dem Frühstück zu Starbucks gehen, aber ich beschwere mich nicht.
In Amerika habe ich überall Leute gesehen, die sich einfach mit ihren Laptops in ein Café gesetzt haben, um einen einzigen Kaffee zu bestellen und dann stundenlang zu arbeiten.
Anscheinend sind Mitch und Scott geübt darin, Ewigkeiten an einem Kaffee zu trinken, denn auf dem Hinweg erzählen sie mir endlose Geschichten von ihren Writing-Sessions, die ihren Erzählungen nach wohl allesamt in einem ganz bestimmten Starbucks stattgefunden haben.
„Wenn du später verrückt sein willst, lasse Mitch bestellen. Sonst kann ich dir auch gerne etwas mitbringen", grinst Scott, als wir angekommen sind.
Die Beiden bestehen darauf, dass ich uns einen Platz sichere und sie die Getränke holen gehen, und auch wenn ich am Anfang etwas skeptisch bin, lasse ich Mitch dann einen Kaffee kreieren und ergattere einen Tisch am Fenster.
„Tada!"
Schwungvoll stellt Mitch wenig später einen großen Becher vor mir ab.
„Ich habe schon wieder vergessen, was alles drin ist, aber ich garantiere dir, er ist unglaublich lecker", meint er dann mit einem breiten Grinsen, während er sich neben mich fallen lässt.
Ich habe meinen Laptop schon hochgefahren und das erste Bild geöffnet, weshalb er sich direkt zu mir beugt.
Es ist noch vor dem richtigen Shooting entstanden, aber das merkt Mitch wohl nicht, er ist viel zu sehr damit beschäftigt, Scott und sich eingehend zu betrachten.
„Habt ihr schon angefangen?"
Der Blonde lässt sich auf meiner anderen Seite nieder.
„Das ist das erste Bild", sage ich.
„Das ist total gelungen!"
Auch Mitch nickt nun, doch ihm ist anzusehen, dass er über irgendetwas nachdenkt.
„Was liegt dir auf dem Herzen?", frage ich grinsend.
„Ich überlege mir schon die passende Bildunterschrift für Instagram, mit der wir möglichst viele Leute frustrieren können", lacht er nur.
Ich klicke weiter, nachdem er offensichtlich meint, dass wir das Bild behalten sollten.
„Wann hast du die Bilder gemacht?", fragt Scott misstrauisch, als das nächste Foto erscheint, auf dem sich die Beiden spielerisch kämpfend gegenüberstehen.
„Während ich die Kamera eingestellt habe", antworte ich unschuldig.
Mitch lacht auf.
„Das gefällt mir! Heimlich, still und leise. Und wir haben davon nichts mitbekommen."


Portrait (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt