Ich war inzwischen in der Innenstadt von Vancouver. Ich hatte die große Weltkarte und den Stadtplan von Vancouver in den Händen. Ich wusste genau, wo ich langgehen musste, um in die Richtung von Bakersfield zu laufen. Bakersfield lag südlich von Vancouver. Ich machte eine Pause an einer kleinen Bank. Ich war kurz vor Vancouvers Grenze und war schon eine Stunde gelaufen. Mein Atem ging regelmäßig und ruhig... aber nicht mehr lange. Denn ich hörte hinter mir ein Knacken. Da ich in den letzten Tagen immer auf das kleinste Geräusch achten musste, fuhr ich hektisch herum. Hinter mir stand niemand. Nur der Wald des Parks. Ich atmete unregelmäßiger. Die können mir unmöglich gefolgt sein! Ich vernahm hinter meinem Rücken ein Schnappen... von einer Schere! Ich stand ruckartig auf, sah mich noch einmal um-niemand war da-und rannte weg. Einfach über die Grenze Vancouvers. Es war zwar nicht so, dass dort eine rettende Mauer stehen würde, jedoch hatte ich die Hoffnung, es liefe mir dorthin keiner hinterher. Aber als ich genau hinter mir wieder ein Schnappen hörte, drehte ich mich auf dem Absatz um. Ich sah die alte Frau mit der großen Schere. Wie hat die mich gefunden?! Tränen der Angst schossen mir in die Augen. Was, wenn die sieben Mörder auch hier lauern...? Die Frau kam näher. "Na, Kindchen? Hast du Lust, dein Haar mit mir zu teilen?" Ich schüttelte wortlos den Kopf und rannte weg. Die kleinen Kiesel unter meinen Füßen spritzten zur Seite und der Farn peitschte gegen meine Waden, als ich den Waldweg entlangrannte. Vereinzelte Tränen liefen über meine Wangen, die Scenen aus der alten Schule schossen mir durch den Kopf. Ich hielt meinen Blick gesenkt, um nicht über die vielen Wurzeln zu stolpern. Die Alte humpelte längst nicht mehr hinter mir, aber ich rannte trotzdem weiter.
Plötzlich stieß ich gegen jemanden. Ich blickte auf und sah einen brünetten Jungen in meinem Alter vor mir stehen. Schnell wischte ich meine Wangen ab, nuschelte ein zittriges "Entschuldigung" und wollte an ihm vorbeigehen, aber er hielt mich an der Schulter fest. "Kenne ich dich? Du kommst mir bekannt vor..." Pech für dich!, sagte ich in Gedanken. "Nicht, dass ich wüsste." Ich wischte seine Hand von meiner Schulter und lief, nach einem Blick auf die Karte, weiter. Ich bemerkte Schritte hinter mir. Als ich mich umdrehte, stand dort der Junge. "Ist was?", fragte ich genervt. Ich musste weiter und hatte keine Zeit für ihn. "Haben wir uns wirklich noch nie gesehen? Wie heißt du?" Ich drehte mich einfach um und ging. Ich brauchte keine Freunde, die würden mich sowieso bloß aufhalten. Der Junge lief mir nach, doch ich ignorierte ihn.
Irgendwann bekam ich Hunger. Ich ging ein Stück in den Wald, um Essbares zu suchen, und verließ somit den schmalen Weg. Der Junge stapfte immer noch hinter mir her. "Ich bin Miles. Wie heißt du?" Ich murmelte leise:"Geht dich doch nichts an!" Leider hatte Miles das gehört und sagte zurück:"Du solltest es lieber sagen, sonst reise ich nicht mehr mit dir! Außerdem bin ich nicht so nett, wie ich aussehe!" Wie sah er denn aus?! Er sah eher aus wie ein Straßenkind. "Ich will doch gar nicht, dass du mir nachläufst! Ich kenne dich nicht!" Der Junge schaute mich skeptisch an. Straßenkind! "Hey! Du bist doch auch nicht besser!", rief Miles plötzlich. Ich hatte meine Gedanken ausgesprochen. "Ich bin kein Straßenkind." Ich grub ein paar Pilze aus und entfernte sie von grobem Dreck. Ich wusste, dass diese Pilze nicht giftig waren. "Und warum gräbst du dann im Dreck?!" Ich konterte im gleichen Ton wie Miles:"Weil ich hungrig bin?!" Der Junge warf mir einen ungläubigen Blick zu. "Hast du ein Feuerzeug?" Ich wollte keine rohen Pilze essen und wenn er eins hatte, konnte ich ein Feuer machen. Er zog ein kleines Feuerzeug aus der Hosentasche und warf es mir zu. Ich fing es, machte einen kleinen Holzhaufen und entzündete ihn. Dann wanderte das Feuerzeug zurück zu Miles. Ich spießte Pilze an einem Stock auf und hielt sie über das kleine Feuer. "Und wieso bist du hier, wenn du kein Straßenkind bist, wie immer du heißt?" Sollte ich es ihm sagen? Nein, das geht ihn nichts an! Ich sagte nichts. "Ich verrate es auch keinem..." Ich blieb still. Plötzlich stand er auf und kam zu mir. Er stellte sich genau hinter mich und schaute mich von oben an. Ich starrte ins Feuer. Hör' auf, moch anzuglotzen! Mach einer Weiler legte ich meinen Kopf in den Nacken und sah Miles direkt an. "Und wieso starrst du mich an?" Er war still. Ich zog meinen Stock zu mir und knabberte an den Pilzen. Sie waren zwar heiß, aber aufgrund meines Hungers schlang ich sie in mich herein. "Wie heißt du jetzt?" Ich stöhnte. "Warum willst du das wissen?" Miles setzte sich ganz nah neben mich und starrte mich an. "Weil ich wissen will, mit wem ich reise." Ich atmete hörbar aus und suchte mir einen versteckten Schlafplatz. An einem leichten Abhang entdeckte ich einen überstehenden Fels, unter den man sich legen konnte. "Willst du das Feuer noch an haben?" Miles ging zum Feuer und begann, es auszutreten. "Nein." Ich schlurfte wieder zum Fels und legte mich darunter. Dann schlief ich ein.
Am nächsten Morgen hörte ich eine Stimme. "Wie immer du heißt? Wie immer du heißt, bist du wach?" Ich öffnete meine Augen und sah Miles' Gesicht direkt vor meinem. Ein leiser Schrei entfuhr mir. Dann packte mich Miles lachend am Arm und zog mich unter dem Stein hervor. "Wach auf, wie immer du heißt!" Er zog mich weiter und ich fand langsam Halt unter meinen Füßen. "Nenn' mich nicht so!" Er lachte und blieb stehen. "Dann sag' mir deinen Namen!" Ich klopfte meine Kleidung ab und richtete meine Haare. "Du lässt mich damit nicht in Ruhe, oder?" Er grinste. Ich atmete hörbar aus, schlurfte zurück auf den Weg und kramte die Karte aus meiner Hosentasche. "Amy." Er sah mich glücklich an. "War das jetzt so schwer, Amy?" Ich rollte mit den Augen. "Nein, Miles, aber es geht dich halt nichts an!", machte ich ihn nach. Er lachte leise und kam dann näher. "Und wo gehst du hin? Was machst du hier, vorallem ganz alleine? Wo kommst du her?" Was wollte der kleine Schnüffler? "Das sage ich dir nicht! Ich habe keine Zeit dafür!" Ich lief zügig los und folgte dem Weg, wie auf der Karte gezeigt. Miles lief mir hinterher und fragte dauernd etwas. Aber ich ignorierte ihn. Vielleicht weiß er, wie man schnell nach Bakersfield kommt... Ich wandte mich an ihn. "Kennst du eine schnelle Möglichkeit nach Bakersfield zu kommen?" Miles sah verwirrt aus. Er legte den Kopf schief und schien zu überlegen. "Ja!", kam es nach einiger Zeit. "Echt?! Wie? Womit? Wann? Wie schnell?", schoss es aus meinem Mund. Er guckte mich nachdenklich an. "So bringe ich dich dazu, mit mir zu reden..." Ich hörte ein Rascheln. Ich sah mich um, aber da war nichts. Ich wusste, dass da jemand auf mich wartete und das würde ich nicht zulassen! Ich packte Miles am Handgelenk und rannte los. Einfach so schnell ich konnte den Weg entlang. "Was soll das?!", schrie er. Ich antwortete nicht sondern zog ihn hinter mir her. Er rannte ohne Widerspruch mit. Wir rannten schon einige Minuten- Miles war schon außer Atem-, bis ich einen großen Felsbrocken entdeckte. Ich rannte auf ihn zu, versteckte mich mit Miles hinter ihm und presste mich an das kalte Gestein. "Kannst du mir mal erklären, was das gerade sollte?!", sagte er laut. "Psst!", zischte ich lauernd. Ich atmete schnell, aber leise. Miles sah mich ungläubig an. "Wieso?", flüsterte er. Ich legte mir wortlos den Zeigefinger an die Lippen, um ihm zu bedeuten, er solle ruhig sein. Er wandte seinen ungläubigen Blick von mir ab und trat hinter dem Felsen hervor. Spinnt der?! Ich zog ihn schnell wieder an der Jacke zurück. Er schaute mich vorwurfsvoll an. Dann schlich ich hinter dem Felsen hervor und hielt Ausschau nach meinen Verfolgern. Ich sah keinen. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass hier noch jemand sein würde, also sagte ich:"Gut, die Luft ist rein!" Miles guckte sich irritiert um. "Was war jetzt los?" Ich seufzte. Nach der Aktion musste ich es ihm erzählen.
Nachdem ich ihm alles erzählt hatte, sah er mich mit großen Augen an. "Deshalb bist du so gerannt, als ich dich getroffen habe... Na ja, jetzt bin ich ja da." Und was soll der helfen?! Er umarmte mich und nach kurzer Zeit erwiederte ich verwirrt die Umarmung. Wieso umarmt der mich? "Was willst du schon gegen die machen?" Miles schaute mir in die Augen und hielt mich an den Armen fest. "Ich bin stärker als du glaubst!" Ich guckte ihn ungläubig an. "Ach ja? Aber gegen sieben Männer mit Messern und eine Irre mit Riesenschere kommt trotzdem kein kleiner Junge, wie du, an!" Es war nicht lustig, sondern mein voller Ernst, aber ich musste dennoch schmunzeln. "Ich bin kein kleiner Junge! Ich bin 17!", erwiderte er empört. Warum ist der so kindisch, wenn der ein Jahr älter ist, als ich? "Da wär ich mir nicht so sicher...", lachte ich. Ich konnte lachen! Das war das erste Mal seit Tagen, dass ich wieder lachen konnte! Er sah mich herausfordernd an. Ich kehrte ihm schnell den Rücken zu und wollte weiter gehen. Ich lief ein paar Schritte, wurde dann aber von hinten gepackt und über die Schulter geworfen. Ich zappelte und schlug mit den Fäusten gegen Miles' Rücken, aber er ließ mich nicht runter. "Das ist nicht lustig! Lass' mich runter!" Aber Miles hielt mich fest. "Nein! Ich beweise dir jetzt, dass ich stark genug bin!" Ich konnte mich nicht aus seinem eisernen Griff befreien und gab es irgendwann auf.
Dann ließ er mich runter. Wir waren gefühlte eineinhalb Stunden den Weg entlanggelaufen. Wir standen an einem Abzweig und ich las die Karte. Dann entschied ich mich für den rechten Weg, wie es auf der Karte stand. "Warum läufst du mir jetzt eigentlich hinterher?" Ich war immer noch nicht sehr weit gekommen. Vielleicht 20 Kilometer von Vancouver. "Weil ich sowieso nichts zu tun habe. Und du bist mir sympathisch." Toll. Jetzt habe ich den wirklich die ganze Zeit an den Hacken hängen?! Ich seufzte. "Und du willst den ganzen Weg bis Bakersfield mitlaufen?!" Er zuckte mit den Schultern. "Wieso nicht?" Ich seufzte und lief weiter.
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Okay, das war ein langes Kapitel, aber ich dachte, nachdem ich lange nicht mehr geupdatet habe, war das mal nötig. Tut mir leid, wenn es nicht so spannend ist. Votes und Kommentare sind wie immer erwünscht. :-)
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Flucht
Mystery / ThrillerAmy, ein sechzehnjähriges Mädchen, muss zu ihrem Dad finden, nachdem sie gesehen hatte wie ihre Mutter umgebracht wurde. In ständiger Gefahr, von den Mördern ihrer Mutter gefunden zu werden, begibt sie sich in ein Abenteuer mit mysteriösen Orten und...