#4.4 Plusquamperfekt

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Es ist immer der gleiche Traum, den ich seit etwas mehr als einer Woche träume, seit neun Tagen, um genau zu sein. Es ist immer die gleiche Abfolge von Bildern, die gleiche Abfolge von Gefühlen, die auf der Bühne einer entlegenen, verlassenen Stadt irgendwo am Meer spielt. Im Hintergrund ist nur das monotone Brechen der Wellen eines Meeres zu hören. Eine Welle nach der anderen Welle, die über den kurzen Strand Richtung Ruinen rollt. Ein entlegener, toter Planet. Vielleicht ist es das auch. Vielleicht spielt diese Szene überhaupt nicht auf der Erde. Es gibt keine Menschen in diesem Traum, keine Tiere, keine Pflanzen. Es gibt nur Gespenster. Spuren von Zivilisation, Spuren der Vergangenheit, Spuren einer abgeschlossenen Vergangenheit.

Es geschieht auch nicht viel in diesem Traum. Es ist kein Alptraum. Es ist kein Wunschtraum. Dieser Traum ist wie das Vakuum des Lebens. Als würde ich das Leben ohne mich selbst träumen. Es kommt mir so vor, als habe mich dieser Traum an einen Ort entführt, um mich dann in sich selbst zu verschlucken, um mir zu zeigen, wie die Welt sein wird, wenn es niemanden mehr gibt.

Es gibt niemanden dort. Es gibt niemanden, der auf mich wartet, niemand, der irgendetwas tun würde, um diesem Ort Leben einzuhauchen. Dieser Traum ist die schiere Abwesenheit von allem, inklusive mir selbst. Dabei kommt es mir so vor, als habe ich mich schon seit Jahren auf diese lange, beschwerliche Reise gemacht, nur um hierher, in dieses Nichts zu gelangen. Nur um jetzt an einer verlassenen Strandpromenade entlangzuschlendern, einen Schritt an den anderen Schritt auf meinen hohen Pumps setzend, die dabei völlig bedeutungslos auf den Resten aufgebrochenen Asphalts klackern. Gerade so, als habe das jemals etwas bedeutet.

Sie beschreibt einen langen Bogen um eine Bucht, diese Promenade. Sie muss irgendwann in der Vergangenheit einmal eine belebte Strandpromenade gewesen sein. Es ist immer noch warm, nicht mehr heiß, aber warm genug, um das Leben noch fühlen zu können, dass sich hier irgendwann einmal abgespielt hat. Um zu fühlen, dass so etwas wie Leben möglich ist. Es ist als würde ich durch die Ruinen dieses Lebens wandeln. Es ist nicht mehr präsent, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es dieses Leben irgendwann in der Vergangenheit einmal gegeben hat.

Das einzige was ich mir nicht vorstellen kann ist, dass dieses Leben je zurückkehren wird. Aber ohne jeden Zweifel gab es einmal Menschen, die diese Strandpromenade bevölkert haben. Kinder, junge Frauen und Männer, die sich verliebt und geliebt, entliebt und gelitten haben. Ältere Frauen und Männer, die diesen Ort mit ihren Geschichten gefüllt haben, bevor sie gestorben sind. Und jetzt sind diese Geschichten aus diesem Ort entwichen wie die Seele aus einem toten Körper entwichen ist. An einen anderen Ort oder auch an keinen Ort.

Wenn ich mich anstrenge, meine ganze Phantasie aufwende, kann ich mir gerade noch vorstellen, dass es so etwas wie eine Geschichte überhaupt je gegeben hat. An diesem Ort oder überhaupt irgendwo. Man kann sich nur mit sehr viel Phantasie vorstellen, dass es einmal Menschen gegeben hat, die an ihre Geschichten geglaubt haben, die diese Geschichten tatsächlich gelebt haben und davon überzeugt gewesen sind, dass es sich lohnte, diese Geschichten zu leben. Dieser Ort ist wie der Beweis, dass es keine Geschichten mehr gibt.

Ich wache aus diesem Traum nie schweißgebadet auf. Es gibt kein abruptes Ende. Eigentlich endet dieser Traum überhaupt nicht. Das ist das gespenstischste an diesem. Der eine Traum geht in den anderen Traum über während ich aufstehe, völlig übermüdet wie ein Zombie ins Badezimmer wandle, die Zahnbürste aus dem Glas entnehme und die gräuliche Zahnpasta aus der Tube presse. Es ist nur die Kulisse, die sich ändert. Wenn ich die Augen aufschlage oder sie wieder schließe. Wenn ich in einem der Schaufenster in der Traumstadt meine eigene gespenstische Gestalt vor der Kulisse des Meeres wahrnehme oder wenn ich in den Spiegel im Badezimmer in mein durchsichtiges Gesicht blicke, während der Wasserhahn tropft. Das Grundgefühl ist immer das gleiche. Selbst wenn dieses Gefühl manchmal die Temperatur oder die Farbe wechselt wie der Himmel. Es wechselt die Temperatur oder die Farbe zum Beispiel während ich Rebecca wecke oder mit ihr spiele, während ich die Ansichten meines Baristas über Gott und die Welt im Allgemeinen und die Motive der Frauen im Besonderen bestätige oder mit meinen Kolleginnen die Mittagspause verbringe. Selbst wenn ich mit meinem Liebhaber schlafe verschwindet diese Leere nicht wirklich.

Es ist bestimmt kein gutes Zeichen, wenn man solche Träume hat. Vor allem, wenn man das Gefühl hat, aus diesen Träumen nicht mehr erwachen zu können. Wenn die Grenze zwischen diesem Traum und der Realität verschwimmen. Manchmal sitze ich an meinem Arbeitsplatz oder gehe durch den mir zur Überwachung anvertrauten Serverkeller im siebten Untergeschoss und frage mich, ob ich träume oder wach bin. Manchmal frage ich mich, ob der Serverkeller mich oder ich den Serverkeller überwache und manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, die Postkarte, die mir Kim geschickt hat, entweder einfach endgültig zu entsorgen, oder die Reise zu diesen Koordinaten, die dort verzeichnet sind, anzutreten, um diesen Traum endgültig loszuwerden. Aber um ehrlich zu sein, ist im Moment meine Angst, dass dieser Traum dadurch endgültig und für immer wahr werden könnte viel größer als die Hoffnung, dass er dadurch verschwindet.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 14, 2018 ⏰

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