#3.3 Synergien

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Und seither bin ich hier. Hier, in diesem Haus, unter diesem Dach, unter diesen Umständen.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich damit abgefunden habe. Wenn man überhaupt davon sprechen kann, dass ich mich jemals damit abgefunden habe. Aber Kim hat mir die Sache leicht gemacht. Das muss ich sagen. Sie hat mir von Anfang an das Gefühl gegeben, dass ich willkommen bin, sie war von Anfang an sehr fürsorglich und hat sich auf ihre angenehme, zurückhaltende Art um mich gekümmert, mich mit leicht Verdaulichem bekocht, als ich Beschwerden mit dem Magen und dem Darm bekommen habe, und manchmal, wenn ich in der Badewanne liege, masssiert sie mir sogar Verspannungen aus dem Nacken.

Wir haben seither viele Tage gemeinsam verbracht. Wir haben geredet und im Winter Spaziergänge über verschneite Waldwege unternommen oder ich hab ihr zugesehen, wenn sie an einem ihrer rätselhaften Gemälde gearbeitet hat.

Diese Gemälde Kims sind ein Mysterium. Noch mysteriöser ist nur die Art, wie sie sie malt. Sie verströmen eine Schönheit, die man nur schwer beschreiben kann, wahrscheinlich weil diese Schönheit nicht für Menschenaugen geschaffen ist, es ist wie etwas Außerirdisches, wie Diamanten aus dem All, etwas dass das Auge auf den ersten Blick irritiert, aber wenn man sich erst darauf eingelassen hat, wenn man diesen Einstiegspunkt gefunden hat, dann wird man süchtig davon. Manchmal stehe ich minutenlang davor, um sie anzusehen, und habe dann das Gefühl, dass ich schwebende Töne höre oder dass Wörter oder einzelne Silben vor meinem inneren Auge entstehen, deren Bedeutung ich nur erahnen kann. Es ist, als würde etwas in mir anfangen, eine fremde Sprache zu sprechen.

Vielleicht verstehe ich inzwischen auch, warum Marc unbedingt mit ihr zusammen sein wollte, auch wenn es vielleicht aus den falschen Gründen war. Vielleicht war es auch aus den richtigen Gründen, aber ich glaube nicht, dass er diese Gründe, diese Ursachen seiner Zuneigung zu Kim je richtig verstanden hat.

Denn eigentlich ist Kim das Gegenteil von Marc. Sie ist das Gegenteil von den meisten Menschen eigentlich, sie ist nicht wie ihre Erzeuger. Sie interessiert sich nicht für die gleichen Dinge, nicht für Geld und nicht für Ruhm oder Macht und schon gar nicht für Reichtum. Stattdessen scheint sie vernarrt in die unsichtbaren Dinge des Lebens. In Beziehungen zwischen den Lebewesen und den Dingen. In das Leben selbst womöglich. Nicht nur, dass sie die Pflanzen mit einer Nachsichtigkeit und Hingabe behandelt, als empfinde sie eine Art Empathie für sie. Sie hat auch einmal diesen Vogel gefunden, ich glaube es war ein Rotkehlchen, das auf eine der großen Fensterscheiben der Terrassenfront geprallt ist, und hat es dann gesund gepflegt und wieder in die Freiheit entlassen. Selbst die Katze der Nachbarn, die Menschen nicht ausstehen kann, die einen großen Bogen um sie macht wenn sie sie auch nur aus der Entfernung sieht, kommt zu ihr, schmeichelt mit ihrem dichten buschigen Fell um ihre Beine und lässt sich von ihr auf den Arm nehmen und kraulen. Es ist seltsam, wie diese Wesen sich verstehen.

Und seit Rebecca da ist, kümmert sich Kim auch um Rebecca. Wenn ich schlafe zum Beispiel oder wenn es mir auch nur zu anstrengend ist, die Windeln zu wechseln, hinter ihr herzukrabbeln oder sie im Arm zu halten und zu wiegen. Wenn sie hungrig ist, bringt Kim sie dann zu mir, damit ich sie stillen kann.

Kim hat endlose Energiereserven. Ich nicht. Die letzten Wochen über hab ich mehr geschlafen, als dass ich wach gewesen wäre. Ich hatte überhaupt kein richtiges Bedürfnis wach zu sein. An manchen Tagen lieg ich bis 12 im Bett und steh nur auf, wenn ich auf die Toilette muss oder wenn Kim mich weckt, weil sie sich Sorgen macht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt nicht mehr die Kraft habe, mich um dieses Kind zu kümmern, und dass Kim eigentlich die bessere Mutter wäre als ich, dass Rebecca Kim viel lieber mag als mich und dass Kim überhaupt ein viel besserer Mensch ist als ich es jemals sein könnte.

Ich sollte eigentlich eifersüchtig auf Kim sein. Eine richtige Mutter sollte das sein. Ich sollte ihr das Kind wegnehmen. Aber ich bin nicht eifersüchtig. Vielleicht weiß ich ja auch, dass Rebecca bei Kim in besseren Händen ist als bei mir und dass sie von Kim mehr lernen kann als von mir. Was sollte dieses Kind von mir schon lernen?

Vielleicht habe ich auch einfach nicht mehr genügend Kraft, um auf Kim böse zu sein. So sehr ich mir das manchmal wünsche, dass ich etwas in mir gegen sie auflehnen würde.

Bei Marc ist das anders. Marc kann ich nicht ausstehen. Dafür reichen meine Kraftreserven noch. Ich kann ihn hassen und mich über ihn aufregen. Ich gehe ihm aus dem Weg so gut es geht, und wenn er Rebecca auf dem Arm hält oder mit ihr spielt, verlasse ich meist unter einem Vorwand den Raum, weil ich das nicht ertragen kann. Ich bete dann, dass das Kind nicht von ihm, sondern von meinem ehemaligen Chef ist.

Vielleicht kann ich Kim auch nicht böse sein, weil ich spüre, dass uns etwas verbindet. Wir reden häufig über uns, sie hat das Bedürfnis darüber zu sprechen, wie sie sich fühlt und mich zu fragen, ob ich solche Gefühle auch kenne. Manchmal, wenn ich ihr bestätige, dass ich das genauso empfinde, nimmt sie mich in den Arm und drückt mich, und manchmal, wenn ich ihr sage, dass ich nicht genau wisse, wovon sie rede, sitzt sie mit diesen traurigen einsamen Augen vor mir, so dass ich das Bedürfnis habe, sie zu trösten und ihr zu sagen, dass man nicht jedes Gefühl mit allen anderen teilen müsse.

Und dann neulich abends, kurz bevor Marc nach Hause kam, hat sie diese Andeutung gemacht. Eine sehr vorsichtige Andeutung, wie es ihre Art ist, verpackt in eine Geschichte, die sie mir erzählt hat, die sie irgendwo aufgeschnappt hat oder auch selbst erfunden hat, weil sie nicht sicher war, wie ich darauf reagieren würde. Aber ich habe diese Andeutung verstanden. Und seither ist mir klar, dass es vielleicht doch noch eine Chance gibt, diesem ganzen Schlammassel zu entkommen.

Die AndroidinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt