#3.5 Nachtschwärmer

280 35 13
                                    

Im Moment ist die Situation vertrackt. Im Moment bin ich noch auf Marc angewiesen. Im Moment hab ich weder eine eigene Wohnung, noch einen Job oder eine andere geregelte Einkommensquelle.

Nach dem Akt auf der Betriebsfeier mit meinem Chef in seinem Büro war der Job nicht mehr zu halten gewesen. Er hat sich danach bei mir entschuldigt, es hat sich so angehört, als würde er das ernst meinen, und er hat mir immerhin eine Abfindung angeboten, eine Art Schweigegeld, das ich angenommen habe. Was hätte ich auch tun sollen? Mir war ja selbst klar, dass wir diese aus dem Ruder gelaufene Beziehung nicht mehr retten konnten. Und ich brauchte das Geld. Weiß Gott, brauchte ich das Geld. Um mich über Wasser zu halten, um überhaupt so etwas wie eine Rücklage zu haben, einen Notgroschen für schlechte Zeiten von denen ich wusste, dass sie kommen würden, weil ich schon mitten drin steckte.

Aber das war bevor ich auch nur ahnte, dass ich schwanger war. Das war bevor mich diese Hiobsbotschaft erreicht hat. Bevor ich nicht wieder einsatzfähig bin, wieder Geld verdiene und eine Wohnung habe und Rebecca irgendwo unterbringen kann, kann ich nicht weg von Marc, in jedem Fall brauch ich eine Perspektive, irgendetwas, das Hoffnung gibt.

Denn zwischen Marc und mir stehen die Zeichen jetzt eindeutig auf Trennung. Auf endgültige, finale Trennung. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, von dem aus es kein zurück mehr gibt.
Inzwischen hab ich das Gefühl, dass Marc mich lieber heute als morgen aus dem Haus schaffen würde. Er hat es nur noch nicht ausgesprochen und er ist eben auch in einer Zwickmühle. Er darf nicht den Komplettbruch riskieren. Nicht, dass er noch Interesse an mir hätte oder daran, zukünftig mit mir befreundet zu sein oder auch nur mit mir in Kontakt zu bleiben. Aber natürlich hat er Interesse an Rebecca. Er ist ganz vernarrt in Rebecca. Nicht nur in sie als Tochter, sondern auch in die Vorstellung, eine Familie zu haben. Selbst unter diesen untragbaren, umöglichen Umständen scheint ihm dieses diffuse Familiengefühl noch wichtiger zu sein als unsere psychische Gesundheit.

Je weniger Streit er also mit mir kriegt, umso besser sind seine Chancen, dass er Rebecca regelmäßig sieht und sie zu sich nehmen kann.

Das ist der Status Quo.

Aber bevor ich mir all diese Gedanken mache, die ich mir ohnehin die ganze Zeit über mache wenn ich alleine bin, bevor ich mich dem nächsten Abgrund nähere, dessen gähnende Leere ich schon vor mir sehe, noch bevor ich ihn erreicht habe, genieße ich erst einmal diese vier Tage, die Kim und ich für uns haben, solange Marc auf einer Ärztefortbildung irgendwo in den Untiefen des Schwarzwalds weilt, wo er auch hingehört. In irgendeinem Luxushotel in irgendeinem Tal oder auch auf irgendeinem Hügel mit Sternekoch und Wellnessbereich, in dem ständig Wagner oder Liszt im Hintergrund laufen. Alles angemietet und finanziert von einem globalen Pharmakonzern, um den Halbgöttern in Weiß die neuesten Hochpreissegmentpillen zur Verschreibung anzupreisen...

Aber Hauptsache er ist weg. Hauptsache Kim und ich haben unsere Ruhe. Für Samstagabend haben wir sogar einen Babysitter engagiert, damit wir ausgehen können. Ich habe unbändige Lust mit Kim auszugehen und ihr das Nachtleben Kölns zu zeigen. Ich möchte ihr zeigen, wie sich andere Frauen in ihrem Alter vergnügen, wie sie sich kleiden, amüsieren und in der Öffentlichkeit geben und fühlen.

Also nehmen wir Marcs Volvo, der sonst nur in der Garage steht, und fahren nachts über die erst dunkle, dann spärlich beleuchtete, und schließlich gleißend helle Autobahn nach Köln, parken das Auto in einer Tiefgarage, gehen erst in die Nachtvorstellung ins Kino in einen ziemlich bizarren Film, in dem es im Wesentlichen darum geht, dass Außerirdische auf die Erde kommen und irdische Männer entführen, sich mit ihnen vergnügen, sich verlieben und wieder entlieben und sie dann, als sie gelangweilt sind, im Weltall entsorgen. Es ist eine Schande!

Danach gehen wir in diesen Club, den ich im Internet recherchiert habe. Er ist in einem stillgelegten U-Bahnschacht unter einem antiken römischen Bad untergebracht und sieht von innen ein bisschen so aus, wie ich mir eine moderne Krypta vorstelle. Wir lassen uns von einem martialisch aussehenden Türsteher scannen und durchsuchen und gehen dann die endlos scheinenden steinernen Stufen hinunter und betreten diesen verwinkelten, gemauerten Raum, dessen Dimensionen ich aufgrund der irritierenden Beleuchtung nur erahnen kann.

Dort angekommen, setzen wir uns erst mal an die Bar und ich genieße die Atmosphäre und die Aufmerksamkeit der anderen Gäste. Denn natürlich ist Kim eine Attraktion. Natürlich ist Kim die mit Abstand attraktivste Frau in diesem Laden. Ihr Körper ist aber auch eine Augenweide. Außerdem waren wir Freitag, als Marc schon ausgeflogen war, noch shoppen und ich hab dafür gesorgt, dass sie das so ziemlich hübscheste Kleid trägt, dass man als junge Frau gerade noch so tragen kann, obwohl das natürlich bei ihren Maßen nicht nötig gewesen wäre. Aber ich wollte, dass sie sich selbst übertrifft. Ich wollte, dass sie die Schönste überhaupt ist.

Und jetzt sitze ich neben dieser umwerfenden brünetten Nymphe an der Bar, trinke einen Wodka Seven nach dem anderen Wodka Seven und beobachte die jungen Männer, von denen, soweit ich das sehe, keiner umhin kommt, ihr Blicke zuzuwerfen, auch wenn ihre Freundinnen ihnen das stillschweigend streng verbieten und sie das genau wissen, dass sie das nicht dürfen.

Aber Kim ist eben nicht nur sexy, sie ist nicht nur auf diese plumpe Weise gutaussehend, sie hat nicht nur diese langen schlanken wohlgeformten Beine und diesen knackigen Po, sie hat inzwischen auch diese fein geschnittenen Gesichtszüge, gerade so, als würde ihre ganze künstlerische Tätigkeit sich in ihre Mimik einschreiben wie die Süße sich in das Fleisch und die Farbe einer Apfelsine einschreibt. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass kein einziger Mann in diesem Laden sie von der Bettkante stoßen würde.

Mir selbst bleibt da nur der Wodka. Später beschaff ich mir vielleicht noch ein wenig Ecstasy, um auch wirklich die letzte Spur Zweifel, die letzte Spur Bewusstsein und Erinnerung an mich selbst aus meinem Hirn zu pusten. Wenigstens für diesen Abend. Wenigstens für diese wenige Stunden möchte ich vergessen, wer ich bin und wie ich hier hergekommen bin. Denn im Moment muss ich nicht nur immer wieder an meine aussichtslose Lage denken, ich komm mir neben Kim auch ein bisschen so vor wie die unterdurchschnittlich hübschen Mädchen von früher in der Schule, die von manchen begehrten Mädchen zu allen möglichen Veranstaltungen als Geleit mitgeschleppt werden. Das ist immer ein bisschen Himmel und Hölle. Hölle, weil man sieht, was man nicht ist und nie sein wird. Himmel, weil man immerhin dabei sein und hoffen darf, den einen oder anderen Happen abzubekommen, den die Hübsche verschmäht. Oder man hofft auch einfach auf den Prinzen, der den verwunschenen Frosch in einem erkennt - oder war es andersherum?

Wie auch immer. Ich muss mir nichts vormachen. Ich muss nicht denken, dass ich mit Kim konkurrieren kann. Ich bin inzwischen älter, ich bin Mutter geworden und ich bin nach diesem ganzen Elend, das mir wiederfahren ist, geerdet und abgeklärt genug, um zu wissen, wie das Spiel läuft. Dass der Markt leergefegt ist. Unter normalen Umständen sind meine Chancen bei Männern auf sehr durchschnittlich bis unterdurchschnittlich gut aussehende, weitestgehend beziehungsunfähige Exemplare beschränkt, auf die ich keine Lust habe.

Also versuch ichs erst gar nicht. Spiel ich doch heute lieber mal die in die Jahre gekommene Schlampe mit Geld. Und wer weiß schon. So völlig ohne Sexappeal bin ich ja auch nicht mit meiner neuen Frisur, mit meinem schwarzen, sündhaft teuren Kleid und den diamantenen Ohrringen, mit meinen leicht nuttigen Dior-Pumps, die ich mir von Marcs Geld gekauft habe, und die meine Beine fast so lang wie Kims erscheinen lassen, und mit Shapewear, die meinen Hintern, meine Taille und meine Brüste in Form bringen. Vielleicht komm ich ja mit Kims Hilfe mit einem hübschen Jungen ins Gespräch, wer weiß schon, der dann beschließt, Lust auf mich zu kriegen, oder der einen Mutterkomplex hat oder einfach schon immer Mal wissen wollte, wie das so ist, eine MILF zu verführen und flachzulegen. Die Lust kommt mit der Gelegenheit, der Hunger mit dem Essen...

Die AndroidinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt