#2.9 Perspektiven

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Nach dem Gespräch mit Kim bin ich mir sicher, dass ich diese Sache mit Marc hinter mir lassen muss. Irgendwie muss ich das hinkriegen. Ich weiß, ich klinge wie eine gesprungene Schallplatte, am meisten für mich selbst, aber irgendetwas muss geschehen. Vielleicht muss ich doch die Stadt oder den Job oder beides wechseln, auch wenn das ein Risiko ist.

Also geh ich die Stellenbörsen durch. Es gibt zwei oder drei Angebote, auf die ich mich bewerben kann. Das eine in Münster, das andere in Frankfurt. Immerhin. Ich kann es mir nicht aussuchen. Vielleicht liegt es an Köln. Vielleicht liegt es an der Stadt. Vielleicht bin ich für Köln einfach nicht geschaffen.

Ich seh mir die Homepages der Firmen an, les mir die immergleichen Narrative durch, die von kreativen, engagierten Menschen handeln, die alle gleich aussehen, alle glücklich und schön und jung sind. Ich nehm mir vor, in der kommenden Woche meinen Lebenslauf aufzufrischen, meine Zeugnisse und Zertifikate einzuscannen und ein neues Anschreiben aufzusetzen.

Sobald sich etwas tun sollte, werde ich die Sache mit Marc ausklingen lassen.
Aber jetzt noch nicht. Ich brauch noch eine Weile Ruhe. Ich brauch erst eine Perspektive, bis ich bereit bin.

Als ich Marc das nächste Mal sehe, nehme ich ihn schon mit anderen Augen wahr. Ich hab heute keine Lust mit ihm zu schlafen. Ich sag, dass ich meine Tage habe, als wir bei mir sind und er mich in den Arm nimmt.

Inzwischen kann ich mir gut vorstellen, wie das mit Kim läuft. Kim ist wahrscheinlich auch nur ein Opfer wie ich ein Opfer bin. Vielleicht täusche ich mich auch, und Kim ist viel durchtriebner als ich denke. Das ist mir alles noch nicht so richtig klar. Ich hab ein Bild von ihr gewonnen, aber ich bin mir nicht sicher, ob dieses Bild mit der Realität übereinstimmt oder ob sie es nur für mich entworfen hat.

Ich erzähl Marc von unserem Treffen und davon, dass Kim angeblich ein Bild von mir gemalt hat und er lacht.

„Ja", sagt er, sie male Acrylbilder, sehr kryptisch, dass sei sehr speziell, und sie habe dieses Bild gemalt und ihm gesagt, dass das Lena sei. Es handle sich um ein dunkles Gemälde, sagt Marc. Aber wenn er ehrlich sei, erkenne er mich darin nicht wider. Ihre Bilder seien ihm zu kryptisch. Vielleicht habe sie meine Seele gemalt, sagt er lachend, aber ich wisse ja, dass er keine Ahnung von Kunst habe. Kim schon, Kim würde sich sehr intensiv damit beschäftigen. Sie male und dichte und seit neuestem interessiere sie sich für Religion.

Er erzählt das in einem Ton, der mich wütend macht. Er liebt sie wahrscheinlich auf seine Art. Aber nach allem was ich über ihn weiß, ist sie für ihn nicht mehr als ein Jungbrunnen, ein manipulierbares Mädchen, dass verzweifelt auf der Suche nach so etwas wie Identität ist und sich in seine Arme geworfen hat.

Er hat wirklich alles, denke ich.

Der Gedanke kommt mir jetzt zum ersten Mal, obwohl ich den Eindruck habe, dass er schon lange irgendwo in den Tiefen meines Gehirns gereift ist. Obwohl er auf der Hand liegt.

Besser hätte es für ihn gar nicht laufen können. Er hat einen Job, durch den er Anerkennung erfährt, er hat ein immerschönes Mädchen, das lieb und anhänglich ist und wahrscheinlich seinen Haushalt schmeißt, kocht und regelmäßig seine sexuellen Bedürfnisse erfüllt. Er hat mich als menschliche Liebhaberin, mit der er ausgehen kann und die er wegwerfen kann, wann immer es ihm beliebt. Und wir sind beide von ihm abhängig. Wenn er will, kann er sich noch eine Frau anlachen. Für Kim ist das kein Problem und ich krieg es sowieso nicht mit.

Vier Tage später schreib ich eine Bewerbung und verschick sie. Weitere zwei Tage später treff ich mich mit Marc und wir gehen ins Kino und betrinken uns erst mit Bier während des Films, und später bei mir zu Hause mit Wein. Danach lieben wir uns.

Die AndroidinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt