#1.7 Degradierung

448 68 6
                                    

Es ist jetzt acht Wochen her, seit Marc weg ist, und meine Situation hat sich nicht gebessert. Ganz im Gegenteil. Es ist nur alles noch schlimmer geworden, ich bin abgemagert bis auf die Knochen, trinke fast jeden Abend und auf der Arbeit läuft es richtig schlecht. Ich mach Fehler. Ich hab schon das zweite Gespräch mit meinem Chef hinter mir. Beim ersten ist er noch sehr nett und hilfsbereit gewesen, fast väterlich. Ich solle mir Zeit nehmen, hat er gesagt, er wisse, wie viel ich geleistet habe und wie wichtig ich für die Firma sei. Aber jetzt sei es Zeit auch mal an mich zu denken. Ich solle mir nicht so viele Überstunden aufbürden, Arbeit an Luise abgeben oder Urlaub nehmen wenn ich das brauche. Und wenn ich Probleme habe, er etwas für mich tun könne, solle ich nicht zögern, sich an ihn zu wenden, ich wisse, dass ich offene Türen bei ihm einrenne.

Das zweite Gespräch vier oder fünf Wochen später verlief etwas anders. Er war immer noch sehr verständnisvoll. Aber er machte jetzt deutlich, dass ich ein Problem habe, das ich in den Griff bekommen müsse. Er schlug vor, ich solle bei einem Therapeuten Hilfe suchen. Er würde verstehen, sagte er, dass ich sehr leide, aber im Moment würden sich die Fehler häufen, es gebe Rückmeldungen unzufriedener Kunden, einer sei abgesprungen. Das könne sich die Firma auf Dauer nicht leisten, er wisse, dass ich das verstehe. Er habe sich beraten und entschlossen, vorerst die Verantwortung für die Projekte, an denen ich arbeite, an Luise zu übertragen. Ich dürfe das nicht falsch verstehen, das sei keine Degradierung, sobald ich meine innere Balance wiedergefunden habe, würde ich meine alte Position zurückbekommen. Im Übrigen sei die Tatsache, dass Luise jetzt schon so weit sei, mein Verdienst. Ich habe sie angelernt und ihr das beigebracht was sie könne. Darauf könne ich ruhig stolz sein.

Ich war sehr stolz auf mich. Ich verdiente nicht nur weniger, hatte meine Stellung verloren, sondern musste auch noch meiner ehemaligen Assistentin zuarbeiten. Was glaubt er denn, wie ich mich fühle? Bestimmt hilft mir das, meine innere Balance wiederzufinden, mich noch minderwertiger zu fühlen.

Davon abgesehen ernte ich seit Wochen die mitleidigen Blicke meiner Kollegen. Jeden Tag, wenn ich das Büro betrete und an meinen Platz gehe, kommt es mir vor, als lägen tausend Augen auf mir. Am Anfang war noch so etwas wie Empathie in ihren Blicken gewesen, inzwischen haben sie bestenfalls noch analytisches Interesse an meiner weiteren Entwicklung. Ob ich noch dürrer werden, ob ich noch fertiger aussehen kann, wie lange ich das körperlich durchhalte ohne zusammenzubrechen oder wie lange es dauert, bis ich einfach nicht mehr im Büro erscheine und der Anruf kommt, dass ich mich in meiner Wohnung erhängt habe.

Die AndroidinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt