#4.3 Hochzeit

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Manchmal kam es mir so vor, als sei sie nie dagewesen. Manchmal fragte ich mich, ob sie wirklich jemals existiert hat oder ob dieses Jahr in Marcs Haus, den ich seither nie mehr gesprochen oder gesehen habe, diese ganzen Monate mit Kim, nicht nur in meiner Vorstellung existiert haben oder in einem Traum, aus dem ich jetzt allmählich erwache.

Irgendwann, nach einem Jahr, in dem ich nichts von Kim gehört habe, habe ich vielleicht sogar begonnen, mit ihr und dieser ganzen Vergangenheit abzuschließen. Ich habe mir manchmal vorgestellt, dass diese Vergangenheit eine Erfindung meines Unterbewusstseins sei, um mich vor mir selbst zu schützen. Eine Zeitlang dachte ich auch, dass Kim mich einfach vergessen habe oder einfach kein Interesse mehr daran, den Kontakt wieder aufzunehmen oder zu mir zurückzukehren.

Dabei bin ich immerhin ihre Angetraute. Wenn das irgendetwas bedeutet. Immerhin sind wir verheiratet. Ich hab sogar einen Ring, den ich lange getragen habe, in dem ihr erfundener Name „Jeanne Palétuvier" und ihr richtiger Name und das Datum unserer Hochzeit, der 13.09. eingraviert ist.

Wir haben damals über diese Zeremonie gelacht. Ich erinnere mich genau daran, wie wir uns füreinander hübsch gemacht haben, uns geschminkt und in verschiedenen Räumen in unsere Kleider gezwängt und uns die Augen verbunden haben, um erst im letzten Moment zu erfahren, wie der andere aussah. Aber wahrscheinlich bin ich nie wirklich ehrlich zu mir selbst gewesen, was diese Hochzeit betrifft. Denn wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann habe ich das ganze doch sehr ernst genommen. Wir hatten uns beide so hübsch gemacht füreinander, Kim und ich, sie sah umwerfend aus. Nachem sie mir die Augenbinde gelöst hat, konnte ich nicht anders als sie berühren und küssen, und als wir dann getraut wurden, in dieser schlicht eingerichteten Amtsstube, in der uns nur ein Vertrag zur Unterschrift vorgelegt wurde, war ich trotz allem, trotz der Umstände, so gerührt gewesen, dass mir die Tränen über die Wange rannen und Kim sie mir weggeküsst hat.

Wir hatten sogar eine Liebesnacht. Unsere erste und einzige. Wir haben uns langsam und sorgfältig ausgezogen, um uns dann genauso langsam und sorgfältig zu lieben. Wir sind zusammen eingeschlafen und zusammen aufgewacht, wir haben uns dabei zugesehen, wie wir aus der einen Traumwelt in die andere Traumwelt hinüberschmolzen wie in ein anderes Medium. Und als ich dann wach war, und verstanden habe, wo ich bin, wer ich bin und wer neben mir liegt, da kam es mir für einen Augenblick so vor, als sei ich in Sicherheit, als sei das ganz normal, dass Kim neben mir liegt, als könne ich den Rest meines Lebens darauf vertrauen, dass sie in meiner Nähe sei.

Aber unseren ersten Hochzeitstag, ein Jahr später, habe ich dann alleine verbracht. Ich habe eine Kerze für Kim in einer kleinen Kirche in der Nähe des Römers angezündet und ich habe sogar für sie gebetet. Nachdem ich über Jahre keine Kirche mehr betreten habe, habe ich mich spontan dazu entschlossen in der Kirche eine Kerze für Kim anzuzünden und zu beten. Und sei es nur, um irgendetwas zu tun, um mich mit einem Ritual über Wasser zu halten, dass mir Nähe vorgauckelt.

Seit einigen Monaten hatte ich dann den Eindruck, dass ich mich damit abgefunden habe. So wie ich mich mit so vielem abgefunden habe. Ich hab mich damit abgefunden, dass meine Mutter tot ist, dass ich keine Beziehung mehr zu meinem Vater habe, damit dass Charlotte nicht mehr da ist und damit dass dieser Marc nicht mehr existiert, den ich von früher kannte und den ich wahrscheinlich geliebt habe, so genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls war ich gerade dabei, mich an dieses Leben zu gewöhnen. Ich habe sogar eine Affäre mit einem verheirateten Mann begonnen, den ich in der Firma kennengelernt habe, in der ich jetzt arbeite. Ich liebe diesen Mann nicht, ich weiß auch nicht, ob ich jemals wieder einen Mann lieben kann, er ist mir noch nicht einmal besonders sympathisch um ehrlich zu sein, wahrscheinlich habe ich mich nur auf ihn eingelassen, um Kim zu bestrafen, weil sie mir noch nicht einmal eine Karte zu unserem Hochzeitstag geschrieben hat....

Und dennoch ist alles sehr ruhig geworden in der letzten Zeit. Es fühlt sich fast ein bisschen so an, als sei ich endlich angekommen. Nicht in dem Leben, dass ich mir vorgestellt habe, aber immerhin in irgendeiner Art erträglichen Leben. Mit jeder Menge Routinen, mit einem getakteten Tagesablauf und Terminen, die es einzuhalten gilt:

7:45 Uhr: Entsetzt die Augen öffnen, während die unscheinbare Melodie des Weckers durch den Raum schwebt und dabei allmählich das Gefühl für die eigene verkorkste Existenz zurückkommt. Aufstehen, duschen, schminken, die Haare machen, anziehen. Die praktischen Dinge des Lebens. Rebecca wecken und füttern und für die Kinderkrippe zurecht machen. Ein letzter Blick in den Spiegel mit Kind auf dem Arm, um mich zu vergewissern, dass ich nach außen einen seriösen, gesettelten Eindruck vermittle.

8:30 Uhr: Rebecca in der Kindertagesstätte zwei Straßen weiter abliefern. Smalltalk mit der Betreuerin. In dem kleinen Café an der Ecke Kaffee und Sojaquark mir Früchten kaufen und währenddessen den dunkelhaarig geschwätzigen Barista in seiner hahnebüchernen Weltsicht bestätigen oder ihn über seine neueste unglückliche Liebe hinwegtrösten (meist sind es gertenschlanke nordische Blondinen, Töchter von Industriellen oder Models oder Schauspielerinnen oder alles zusammen, die er anhimmelt, und die er nur aus seinem Newsfeed kennt).

8:45 Uhr. Durch die automatische Schwenktür die gigantische Vorhalle des Bürogebäudes meines Arbeitgebers betreten. Die Sicherheitskontrolle passieren, einchecken, ins Untergeschoss zu meinem kubischen Arbeitsplatz mit dem Lift fahren, meine Namensvetterin zwei Pätze weiter begrüßen, danach die Mails und die Workbench checken und auf den Anruf zum ersten Meeting warten.

12:10 Uhr. Mittagessen in der Kantine im Obergeschoss mit drei Kolleginnen. Gespräche über Gott und die Welt. Meist über imaginierte Urlaube, über andere mehr oder weniger süsse, doofe, hinterhältige Kolleginnen und Kollegen, über Vorgesetzte, über kleinere und größere Aufreger, die richtigen Umgangsformen, Kleidertrends und über die Entwicklung unserer Kinder. Spätestens während ich mein Geschirr abräume und aufs Laufband stelle und dabei über die Dächer der Stadt blicke, komme ich mir unglaublich alt und angekommen und mittelmäßig vor.

15:00 Uhr. Zum x-ten Mal die Parameter auf der Workbench prüfen, justieren, aktualisieren und dann die abschließende Fahrt mit dem seltsam silbrig geräuschlosen Fahrstuhl ins sechste Kellergeschoss in die Untiefen dieser Stadt antreten, in die Serverkeller, die in zwei klimatisierten Hallen untergebracht sind, in den geräusch- und anteilslos die digitalisierten Wissensbestände einer ganzen Stadt vorgehalten, gespiegelt, gebackupt, gesichert werden.

15:30 Uhr. Abmelden, Gang auf die Toilette, Makeup auffrischen, die steinerne Treppe in die Vorhalle nehmen, auschecken, Sicherheitskontrolle und dann mehr oder weniger erleichtert zur Bahn gehen, um Rebecca wieder von der Tagesstätte abzuholen...

All das hat mir für eine gewisse Zeit das Gefühl von Kontrolle zurückgegeben. Mit kleineren Glücksmomenten und kleineren Frustrationen. Mit Smalltalk auf der Arbeit, die mir das Gefühl sozialer Zugehörigkeit vermitteln, und mit einer Affäre, die mir immerhin an ausgewählten Abenden die Gewissheit gibt, dass ich als Frau noch existiere, mit Wein am Abend, der mich über die Einsamkeit in der Nacht hinwegtröstet.

Aber jetzt ist die Unruhe zurück. Mit der Ankunft der Postkarte sind meine Gedanken wieder in Bewegung geraten. Selbst wenn diese Karte nicht von Kim wäre und sich nur irgendjemand einen schlechten Scherz erlaubt hätte. Es gibt jetzt kaum noch eine Stunde, in der ich nicht wieder an Kim denken würde, in der ich nicht an die Koordinaten denke, die auf der Karte verzeichnet sind, und mich frage, was sie wohl bedeuten, ob sie überhaupt irgendetwas bedeuten, und wenn ja, ob sie das bedeuten, was ich denke, dass sie bedeuten, und ob das so eine Art Einladung an einen anderen, besseren Ort ist. Wohin auch immer. Was auch immer mich dort erwartet.

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