#3.6 Elysische Felder

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Es ist auch gar nicht nötig, dass ich jetzt und hier auf alle Einzelheiten dieser Nacht eingehe. Für die Geschichte, die ich hier erzählen möchte, tut das nichts zur Sache. Und schließlich gibt es auch noch so etwas wie eine Privatsphäre. Warum sollte ich auch eine Beichte ablegen? Zumal ich mich, um ehrlich zu sein, ohnehin nur noch an die Hälfte der Ereignisse dieser Nacht erinnere. Wenn überhaupt.

Jedenfalls läuft es so oder so ähnlich. So oder so ähnlich, wie ich mir das ausgedacht habe. Wie genau, muss ich erst noch durch Kim in Erfahrung bringen.

Im Moment erinnere ich mich noch vage an Gesprächsfetzen zwischen Kim und mir und an einen großen Mann, der sich irgendwann zu uns gesellt hat, der ein bisschen wie ein Seebär aussieht, und der jede Menge anderer gutaussehender Menschen, Männer und Frauen verschiedenen Alters im Schlepptau führt, die er nur entfernt kennt oder gar nicht kennt, vielleicht sind sie auch gar nicht seine Bekannten, vielleicht sind sie auch nur andere Gäste, die sich untereinander nicht kennen, auch das kann ich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Es ist auch nicht sicher, dass diese Menschen überhaupt so gut aussehen, wie ich das in Erinnerung habe. Vielleicht erinnere ich mich falsch oder ich hab sie mir auch einfach schöngesoffen. Ich kann das leider nicht ausschließen. Genauso wenig kann ich ausschließen, dass diese Menschen gar keine Menschen waren, sondern der eine oder andere oder die meisten davon durchgedrehte Androiden wie Kim.

Und dann erinnere ich mich, als es irgendwann schon spät wird, dass dieser ganze Laden so allmählich in Schwung gerät. Alle anfangen, sich zu dieser abstrusen, fast religiösen Musik von Káryyn zu bewegen, die mir wie eine Art Vertonung von Kims Gemälden vorkommt. Die Luft wird immer sämiger, all diese Körper scheinen sich in Zeitlupe im Rhythmus zu bewegen wie Nixen unter Wasser. Wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich sogar an kleine Luftbläschen, die von diesen Körpern an die Wasseroberfläche aufzusteigen scheinen.

Ich hab aber zu diesem Zeitpunkt auch einfach schon viel zu viel getrunken, soviel steht fest, viel zu viel Wodka Seven und andere Drinks, die mir wohl irgendjemand ausgegeben hat. Ich bin mir insgesamt und je länger ich darüber nachdenke, sehr unsicher, ob diese Dinge, an die ich mich noch erinnern kann, überhaupt etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Ob sie überhaupt Erinnerung sind oder ob mein Gehirn etwas konstruiert hat, um diese verlorene Zeit zu überbrücken.

Ich bin mir nur sicher, dass irgendwann alles schwankt wie bei Seegang, dass ich eine ganz leichte Übelkeit empfinde, die aber nie wirklich in den Vordergrund tritt, und die wahrscheinlich nicht auf den Seegang, sondern auf diese kleine Tablette zurückgeht, die mir dieser zwielichtige Typ, der ziemlich hässlich war, vor der Frauentoilette angeboten und verkauft hat, und die ich zu allem Überfluss geschluckt habe.

Irgendwann danach verliert sich alles. Irgendwann danach hab ich angefangen, nicht mehr so richtig zu wissen, wer ich überhaupt bin, ob ich überhaupt jemand bin oder nicht jemand ganz anderes oder einfach nur Teil dieser bewegten karbonischen Ursuppe auf der Tanzfläche, in der ich noch manchmal die Umrisse von Kims Kleid, Kopf und Körper zu erkennen glaube.

Das nächste, an was ich mich erinnere, ist, dass ich die Augen aufschlage (was schon allein deshalb erstaunlich ist, weil ich mich gar nicht entsinne, sie je bewusst geschlossen zu haben), und mein Blick erst an die Decke eines Autos fällt (möglicherweise Marcs Volvo) und dann auf meine Dior-Pumps, die ab und zu links und rechts in den Augenwinkeln erscheinen und wieder verschwinden, erscheinen und wieder verschwinden... Alles kommt und geht. Alles kommt mir irgendwie verkehrt vor, alles steht auf dem Kopf. Aber insgesamt fühl ich mich doch ganz wohl. Ziemlich wohl sogar. Zumal das alles begleitet wird von rhythmischen Stöhngeräuschen und einem irrsinnig guten Gefühl, das auf diesen jungen, hübschen Mann zurückgehen muss, der sich zwischen meinen Schenkeln bewegt und dabei irgendetwas zu mir sagt, das sich nach Süße anhört oder auch nach meinem Namen oder dem einer anderen Frau, den ich mir vielleicht zugelegt habe - vielleicht verwechselt er mich auch einfach. Aber im Grunde ist mir das in diesem Moment egal. Ich bin so auf den Augenblick fixiert, so dankbar, dass er sich einfach weiter bewegt und ich ganz langsam in diesen ekstatischen Zustand gerate...

Was Kim in dieser ganzen Zeit getrieben hat, wird wohl ihr ewiges Geheimnis bleiben. Ich glaube aber, dass sie sich nicht hat lumpen lassen. Jedenfalls hat ihr Makeup ziemlich gelitten und auch ihr hübsches Kleid hat kleine Flecken und ist zerknittert. Aber selbst das kann ihrer Schönheit nichts anhaben. Ganz im Gegenteil. Es macht sie nur noch begehrenswerter.

Jedenfalls muss ich jetzt, wo ich mich von meinem Liebhaber etwas verschämt verabschiedet habe, und zurück in diesem Club bin, Kim erst einmal helfen, sich von einem Mann loszueisen, der unbedingt wissen will, warum sie ihre Telefonnummer nicht herausrückt. Der wahrscheinlich bis über beide Ohren in Kim verliebt ist und jetzt mit gebrochenem Herzen nach Hause muss. Also spiele ich die eifersüchtige Freundin und Kim schiebt mir wie zum Beweis ihre Zunge in den Mund und wir küssen uns.

Als er das sieht, geht er achselzuckend davon, sagt aus Ärger oder Liebeskummer irgendetwas abfälliges über Lesben aber lässt uns immerhin in Ruhe, während Kim und ich uns immer noch küssen, obwohl das schon lange nicht mehr nötig wäre.

Als wir dann auf der Toilette sind, uns gegenseitig in Ordnung bringen, die auffälligsten Spuren beseitigen, vereinbaren wir umgehend, über diesen Abend, diese Nacht und diesen Morgen und alles was in den letzten Stunden womöglich geschehen ist oder auch nicht geschehen ist, Stillschweigen zu bewahren. Insbesondere vor Marc wollen wir kein Sterbenswörtchen davon erzählen. Wir wollen nur sagen, dass wir im Kino gewesen sind...

Die AndroidinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt