#2.4 Plateau

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Allmählich wird es für mich zur Gewissheit. Dieses zweite Drittel meines Lebens wird ziemlich schwierig. Inzwischen bin ich schon wieder auf etwas unter 50 Kilogramm runtergehungert. Als Teenager war ich immer etwas pummlig gewesen, aber jetzt muss ich mich zwingen, zu essen. Es ist, als habe mein Körper keine Lust mehr Nahrung aufzunehmen. Und dann kommen wieder die Migräneanfälle, die jetzt in beunruhigender Regelmäßigkeit auftreten und mir meine letzten spärlichen Kräfte rauben.

Es beginnt meist mit leichten Kopfschmerzen, die immer stärker und unerträglicher werden. Wenn es richtig schlimm wird, muss ich mich übergeben und ich kann kein Tageslicht mehr ertragen. Zum Glück sind die Anfälle bis jetzt immer zum Ende der Woche hin aufgetreten, vom Stress wahrscheinlich oder weil mein Körper mir die Einsamkeit der Wochenenden ersparen will. Auf der Arbeit hat noch keiner etwas bemerkt. Außerdem hoffe ich, dass die Tabletten helfen, die mir meine Ärztin verschrieben hat. Sie ist ziemlich nett diese Ärztin, sie nimmt sich Zeit und redet mit mir. Das hilft im Moment.

Trotzdem ist es die Zeit, in der ich zum ersten Mal in meinem Leben ernsthaft darüber nachdenke, ob ich mir das noch länger antun muss. Das sind nur kurze Augenblicke, in denen mir diese Gedanken kommen. Freitagabende, an denen ich in der Bahn von der Arbeit nach Hause fahre, während andere ausgehen, sich amüsieren, mit ihren Freundinnen durch die Cafés und Kneipen und Straßen ziehen, oder sich mit ihren Männern vergnügen. Aber es sind Gedanken, die ich nicht leugnen kann. Ich hab immer mehr den Eindruck, dass ich überfordert bin mit diesem Leben, dass ich all das, das auf mich zukommt, unterschätzt habe oder einfach nicht mehr die Kraft habe, es zu bewältigen.

Als Marc mich anruft und zum Geburtstag gratuliert, mich fragt, wie es geht, bin ich ehrlich. Vielleicht übertreib ich auch ein wenig. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie schlecht es mir wirklich geht, ob ich übertreibe oder nicht. Ich erzähl ihm von meiner Migräne, um ihn besorgt zu machen, und um gleichzeitig anzudeuten, dass diese unverschuldete Krankheit die eigentliche Wurzel meiner Leiden sei, in der Hoffnung, dass er mir hilft oder mich wenigstens nicht selbst für meine Misere verantwortlich macht.

Er wirkt dann auch sehr betroffen. Ich hör es an seiner Stimme. So gut kenne ich ihn inzwischen. Dass ich so gar nicht auf die Beine komme, hat er sich wahrscheinlich nicht vorstellen können. Schließlich hat er mich ja damals als lebenslustige Frau kennengelernt. Ich habe ja selbst geglaubt, dass das nur eine Frage der Zeit sei.

Er hört sich alles an und sagt dann, dass er sich in der Klinik mal umhören werde. Soviel er wisse, sagt Marc, gebe es einen Kollegen, der auf Migräne spezialisiert sei, vielleicht könne der mir helfen. Ich solle mir keine Sorgen machen, sagt er, das würden wir schon hinkriegen.

Nach dem Gespräch schließe ich die Augen und lege mich für einen Moment in dieses wir hinein wie in einen warmen Wattebausch. Die Wirkung ist nur von kurzer Dauer, das weiß ich, aber ich nehme was ich kriegen kann. Und wirklich, ein paar Tage später ruft er an. Er gibt mir die Email-Adresse des Arztes und sagt, dass er mich vorangemeldet habe. Wenn ich wolle, könne ich mit ihm einen Termin vereinbaren.

Ich weiß nicht, ob ich mir etwas davon versprechen soll. Ich glaube eigentlich nicht, dass ich neue Pillen brauche. Die alten haben auch nicht geholfen. Und die Migräne ist nur die eine Sache. Trotzdem vereinbare ich einen Termin. Schon allein, um einen Grund zu haben, danach im Krankenhaus noch bei Marc vorbeizuschauen.

Nachdem ich bei seinem Kollegen war, der etwas ruppig ist aber einen kompetenten Eindruck macht, der auch mein Gewicht zur Kenntnis nimmt, und mir ein neues Medikament aufschreibt, das ich jetzt erst Mal ausprobieren und dann wiederkommen soll, suche ich Marc auf. Er arbeitet im Nebengebäude.

Er sei etwas im Stress, sagt er, als ich ihn dort im Flur antreffe, aber er fragt, ob ich vielleicht Lust habe, gegen später, gegen Abend mit ihm essen zu gehen. Natürlich habe ich Lust, auch wenn ich versuche, so zu tun, als müsse ich erst noch meinen Terminkalender konsultieren, in dem nur geschäftliche Dates stehen.

Im Vergleich zu mir sieht Marc wie das blühende Leben aus. Er ist entspannt, er hat ansteckend gute Laune und wir reden und scherzen als seien wir noch immer zusammen. Ich spüre, wie sehr mir diese Vertrautheit fehlt. Ich weiß nicht, ob es Marc ist, der mir fehlt, oder einfach nur dieses Gefühl, zu irgendjemandem zu gehören. Wenn ich nicht von Kim anfange, ist alles okay, denke ich. Der Kellner hält mich wahrscheinlich für seine Freundin, Verlobte oder Frau. Ich darf von seinem Teller probieren und er hat kein Problem, wenn wir uns in die Augen sehen. Er nimmt sogar meine Hand und streichelt sie. Und natürlich lädt er mich ein, hilft mir in mein Jackett nachdem er gezahlt hat und legt seine Hand kaum merklich an meinen Rücken als ich in meinem neuen weißen Sommerkleid und meinen Pumps Richtung Ausgang gehe.

Ich bin jetzt über die Phase hinweg, in der ich noch denke, dass ich eine toughe Frau bin. Das wird mir allmählich klar, während ich auf dem Beifahrersitz seines Volvos sitze und die sanft beleuchteten Kranhäuser am Rhein am Fenster vorbeiziehen. Und ich bin auch über die Phase hinweg, in der ich glaube, dass ich allein klarkomme, denke ich, während wir durch die Unterführung fahren und die Lichter der Neonleuchten in weißen Streifen über die Windschutzscheibe und unsere Gesichter huschen. Vielleicht bin ich sogar bereit, mit Marc eine Affäre einzugehen. Wir sind jetzt auf der Südbrücke und fahren auf die andere Rheinseite. Vielleicht bin ich soweit, ihm zuzugestehen, dass er gleichzeitig mit Kim und mit mir zusammen sein kann. Auch wenn ich bei dem Gedanken noch immer erschrecke. Es fühlt sich anders an. Wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Nicht so, als würde ich wirklich erschrecken, sondern, als wisse ich noch, dass ich vor nicht allzu langer Zeit davor erschrocken wäre, oder als wisse ich, dass ich eigentlich davor erschrecken müsste.

Als er vor meiner Haustür hält, frage ich ihn, ob er noch mit hochkommt. Er zögert einen Moment, parkt dann das Auto, und als wir in meiner Wohnung sind, nehme ich ihn an der Hand und küsse ihn, als sei das selbstverständlich. Wenig später zieht er mir meinen Slip aus und wir machen es wie früher auf unserem alten Küchentisch, der jetzt bei mir steht.

Danach liegen wir zusammen auf meinem neuen Sofa und stieren an die Decke. Ich höre auf den Rhythmus seines Atems und auf seine Worte, als er fragt, ob ich Lust habe, mit ihm das Wochenende zu verbringen. Wir könnten morgen zusammen frühstücken, sagt Marc. Wir könnten rausfahren, Spaziergänge machen, ins Museum gehen oder abends ins Kino oder in eine Bar gehen. Ich drehe mich zu ihm, küsse seine Brust und frage, was Kim dazu sagt. Aber er lacht nur. Dass sei völlig okay für Kim, sagt er, sie kenne keine Eifersucht.

Die AndroidinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt