#2.1 Charlotte

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Inzwischen sind weitere zwei Monate vergangen. Ich bin in eine kleinere Wohnung auf der anderen Rheinseite umgezogen. Marc hat mir beim Umzug geholfen. Er hat mir einen Wagen und Umzugshelfer beschafft, die die Möbel geschleppt haben, und er ist die ganze Zeit über bei mir geblieben, weil ich ihn darum gebeten habe. Und am Abend, bevor wir unsere alte Wohnung, deren Räume jetzt leer und kahl und frisch gestrichen sind, an unseren Vermieter übergeben haben, haben wir uns noch einmal auf dem warmen Parkettboden geliebt wie am Tag unseres Einzugs.

Es ist einfach so geschehen. Wir waren beide melancholisch, weil dieses Kapitel in unserem Leben nun zu Ende geht, von dem wir vielleicht beide irgendwann einmal geglaubt haben, dass daraus mehr als nur ein kurzer Abschnitt wird. So richtig kann ich es immer noch nicht fassen, und Marc vielleicht auch nicht. Jedenfalls hatte er ein starkes Bedürfnis, mich noch einmal zu besitzen.

Natürlich ist meine anfängliche Euphorie mit der Gewöhnung an die neuen Umstände etwas verflogen. Aber auch das ist normal, denke ich. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass es mir ein bisschen so vorkommt, als sei ich sozial abgestiegen.

Meine Wohnung ist kleiner und dunkler als unsere alte, ich hab keinen Balkon mehr, keine Badewanne und keine Gästetoilette, und die Küche hab ich von meiner Vormieterin übernommen. Kein Vergleich zu unserer alten Küche, zu dieser aus dunklem Holz gefertigten Küchenzeile mit Gasherd, gläsernen Oberschränken und interaktiven Küchengeräten. Kein Vergleich zu diesem geräumigen hellen Zimmer mit Kronleuchter und den großen Fenstern, vor denen zwei alte Kastanienbäume stehen.

Aber ich versuche mich einzurichten. Ich versuche etwas Neues zu beginnen, keine Angst mehr zu haben, sondern mich auf das Leben einzulassen. Erst habe ich es mir in meiner kleinen Wohnung gemütlich gemacht. Ich hab alte Bilder aufgehängt und neues Geschirr und neues Bettzeug gekauft. Dann hab ich die Gegend erkundet und schließlich hab ich mich, wie geplant, bei dieser Partnerbörse angemeldet und mit drei Männern über Gott und die Welt gechattet und mir austauschbare Komplimente machen lassen, die trotz allem gut tun. Einen davon werde ich in den nächsten Tagen daten.

Aber heute ist Dienstag. Heute ist einer dieser bedeutungslos grauen Dienstage, die mir nur durch Erinnerungen an andere Tage in Erinnerung bleiben werden, wenn überhaupt. Eine Endlosschleife von Belanglosigkeiten.

Ich sitze in der Küche und esse die letzten gewürfelten Tomatenstücke, die auf meinem Teller verblieben sind. Dann räume ich das Geschirr in die Spülmaschine und werfe einen Blick durchs Küchenfenster. Ich sehe wie das Abendrot die gräulich fensterlose Häuserwand des Nachbarhauses blassrosa einfärbt, und ich muss an Charlotte denken. Ich weiß nicht warum. Aber in letzter Zeit denke ich ziemlich häufig an Charlotte.

Charlotte und ich waren eine ganze zeitlang unzertrennlich. Wahrscheinlich ist es uns gar nicht in den Sinn gekommen, dass wir uns irgendwann aus den Augen verlieren würden. Vor Jahren hatten wir die Idee, dass wir erst einmal Berufserfahrung sammeln müssten, um zu sehen, wie das ist, und dann etwas Eigenes auf die Beine stellen, oder auch einfach gleich wieder aussteigen. Wir wollten nicht berühmt oder reich werden, nicht einmal besonders hipp sein. Nur ein wenig Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Wir wollten Zeit haben, uns mit uns selbst zu beschäftigen, herausfinden, was uns gut tat, lesen, schreiben, im Halbschlaf träumend im Bett liegen und die Wärme in unseren Körper fühlen.

Aber als Charlotte dann nach dem Studium nach Berlin ging, war ich schon mit Marc zusammen. Marc und ich haben damals ein Gespräch darüber geführt, wie es weitergehen soll, und er hat mir gesagt, dass er mich liebe und richtig mit mir zusammen sein wolle, dass er keine andere wolle, nur mich, und er sich vorstellen könne, mit mir irgendwann Kinder zu haben, wenn ich das auch wolle. Damals war ich noch sehr verliebt in ihn gewesen, und ich dachte, dass ich es bereuen würde, wenn ich jetzt weggehe. Wahrscheinlich dachte ich, dass für Charlotte und mich immer noch Zeit bliebe.

Damals dachte ich, dass das die richtige Entscheidung war. Eine Weile war das auch so. Marc und ich haben uns verlobt und sind zusammengezogen, und ich hab die Stelle in Köln gekriegt. Es hätte eigentlich kaum besser laufen können. Inzwischen ist mir klar, dass diese kurze Phase nur ein Übergang in eine lange Abfahrt war, an deren Ende ich womöglich noch immer nicht angekommen bin. Aber hinterher ist man immer schlauer. Hinterher kann man die Zeichen deuten. Und wie hätte ich damals auch wissen sollen, dass unsere Beziehung so endet, dass überhaupt mein ganzes Leben nur wenige Jahre später in Auflösung begriffen sein würde?

Es gab ja nicht nur Charlotte, sondern all die anderen, mit denen ich damals noch Kontakt hatte. Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. Aber als Charlotte nicht mehr in der Nähe war, fühlte sich mein Leben auf einmal ganz anders an. Das ganze Leuchten war auf einmal verschwunden, so als habe ich den Schlüssel zu meinem Glück einfach weggeworfen.

Dabei haben Charlotte und ich uns noch ziemlich lange sehr regelmäßig getroffen und andauernd telefoniert. Sie war enttäuscht, dass ich nicht mitkam, klar, aber sie verstand mich auch. Zumindest sagte sie das. In den ersten zwei Jahren hab ich noch Wochenenden bei ihr verbracht und sie bei mir. Einmal sind wir sogar noch zusammen an die Côte d'Azur gefahren. Wir haben ein Zimmer in einer schäbigen Pension genommen, haben gegessen, geredet, gelesen und sind nackt im Meer neben einem kleinen Tintenfisch geschwommen. Wir haben verabredet, uns in spätestens einem Jahr wieder zusammenzutun und uns nicht schlucken zu lassen.

Aber das war wahrscheinlich nur das letzte Aufbegehren. Irgendwann danach ist unsere Beziehung eingeschlafen. Irgendwann hatte sie andere Freunde und einen Freund. Irgendwann ist sie dann schwanger geworden. Das letzte Mal hab ich sie bei der Taufe ihres Kindes gesehen. Das war das erste Mal, dass ich diese Distanz gespürt habe, die auf einmal zwischen uns war. Schon allein die Art, wie sie mich begrüßte, und wenn sie mich dann ihren Bekannten und Freunden und Verwandten vorstellte, klang das so, als sei ich aus einer anderen Zeit und Welt gefallen, als könne sie sich kaum noch erinnern und so als seien wir nur zwei pubertäre Träumerinnen gewesen damals, die sich dieses andere, völlig unrealistische Leben ausmalten.

Es war ein abgeschlossenes Kapitel, das jetzt nur noch in meiner Erinnerung existiert. Ich weiß nicht, ob es auch in Charlottes Erinnerung existiert, ob sie, so wie ich, manchmal daran denkt wenn sie aus dem Fenster blickt oder abends im Bett liegt, oder ob sie es bereits gelöscht oder mit anderen Erinnerungen überschrieben hat. Selbst wenn sie das getan hat, mache ich ihr keinen Vorwurf. Dazu habe ich kein Recht. Wahrscheinlich ist das auch das normalste der Welt. Irgendwann lässt man die Vergangenheit los und fängt wieder an, in der Gegenwart zu leben. Der Blick richtet sich in eine unbestimmte Zukunft. Ich werde das auch tun. Irgendwann werde ich das auch wieder tun. Vielleicht gibt es diese Charlotte dann nicht mehr. Aber jetzt, in diesen Wochen und Monaten, hab ich Zeit, in der Erinnerung zu schwelgen, und mir darüber Gedanken zu machen, was alles hätte sein können.

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